Erzählungen.
Thaler, und jetzt geben Sie mir auch das Brieflein wieder, das Ihnen
mein todkranker Mann geschrieben, daß Sie uns nicht sollten aus dem
Hause werfen.“ Dem Neidhardt war es, als stünde er auf Kohlen,
und er sagte: „Ach, es hätte nicht so geeilt; es war ja nicht so ernst
gemeint. Ihr seht ja, daß ich jetzt Besuch habe; geht jetzt!“ Unterdessen
ergriff er mit seinen knochigen Fingern die Rolle und schob sie in die
Tasche. Gellert aber sagte halblaut: „Es sind dreißig Thaler, und es
klebt kein Fluch daran.“ Neidhardt fühlte bei diesen Worten ein sonder—
bares Frösteln. Die Frau aber fuhr fort: „Ja, ja, jetzt sagen Sie, es sei
Ihnen nicht ernst gewesen. Gestern aber sagten Sie: „Das Geld muß
geschafft werden, oder ich werfe euch mit eurem Plunder auf die Straße!“
Wir haben Ihnen nicht geflucht; wohl aber hat mein Mann für Sie
gebetet, daß Gott Ihnen das steinerne Herz wegnehmen möchte, und
heute morgen hat Gott unser Elend angesehen: als ich auf einem
Straßensteine weinte, hat mich dieser gute Herr da gefunden und mir
die dreißig Thaler geschenkt.“ Gellert winkte, daß sie schweigen sollte;
die Frau aber sagte: „Winken Sie nur; ich muß es sagen, sonst drückt's
mir das Herz ab.“ Neidhardt wurde rot bis über die Ohren. Aber
auf einmal nimmt er sich zusammen, giebt der Frau die dreißig Thaler,
streicht am Pult einen Posten durch und spricht: „Frau, Eure Schuld
ist bezahlt, kauft Brot und pflegt Euren Kranken.“ Und zu Gellert
sprach er: „Vortrefflicher Herr, Sie können nicht nur schön schreiben,
sondern auch schön handeln. Wir wollen zusammen zu der armen
Familie gehen.“
Gesagt, gethan. Und ins elende Stüblein schien ein Sonnenblick
göttlicher und menschlicher Hilfe, und des Schuhmachers Gebet wurde
über Bitten und Verstehen erhört; denn Neidhardt that der Haushaltung
von dem Tage an viel Gutes.
B.
Der kleine, dicke Doktor hatte sich beim Weggehen noch Gellerts
Holzvorrat zeigen lassen und dazu den Kopf geschüttelt, dennoch aber
befohlen, man solle dem kranken Herrn recht tüchtig einheizen. Schon
wollte er heim und seiner Frau das neue Lied Gellerts bringen; aber
als er um die Ecke biegt, redet ihn eine arme Frau an: „Herr
Doktor, kommen Sie doch zu meinem Manne. Der Herr Professor
Gellert und der Herr Neidhardt haben es gesagt.“ „Schon wieder
Gellert,“ brummte der Doktor; „kennt Ihr den, Frau?“ „Ja,“ ant—
wortete die Frau, und Mund und Herz gingen ihr auf. Und der
Doktor rief: „Aha, da ist das Geld hingekommen; darum friert er.“
Der Frau fällt es centnerschwer aufs Herz, daß der liebe Herr um
ihretwillen Mangel haben soll. Der Doktor aber sagte: „Habt nur
keinen Kummer; so einen verläßt der liebe Gott nicht.“