Full text: Die Geschichte des Mittelalters (Bd. 2)

2. Die Religion der alten Deutschen. 
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ihre gegenseitigen Verhältnisse näher bestimmt werden mußten. Dann als 
einmal die Vielheit durchgegriffen hatte, bevölkerte sich der Götterhimmel 
vollends durch die Beinamen der Götter, die, ursprünglich zur Bezeichnung 
einzelner Seiten und Eigenschaften einer Gottheit ersunden, bald zu selbstän¬ 
digen Wesen erwuchsen. 
Der höchste Gott bei allen deutschen Stämmen war Wuotan (althoch¬ 
deutsch) oder Wodan (sächsisch), der Odin des Nordens. Schon sein Name 
kündet ihn als den Weltgeist an, denn er ist die alldurchdringende (wuotant, *) 
Particip von watan — waten), schaffende und bildende Kraft, welche den 
Menschen und allen Dingen Gestalt wie Schönheit verleiht. So allum¬ 
fassend ist sein Wesen, daß alle andern Gottheiten gleichsam nur als Aus¬ 
flüsse von ihm, als seine verschiedenen Eigenschaften erscheinen, als Vollstrecker 
seines Willens, wie denn auch Viele ihn als Vater ehren. In den nordi¬ 
schen Eddaliedern wird Odin dargestellt als einäugiger, bärtiger Greis mit 
einem breiten Hute und einem weiten Mantel. Diese Darstellung wird 
gewöhnlich so gedeutet: Das eine Auge ist die Sonne, der breite Hut sind 
die Wolken und das Himmelsgewölbe ist der weite, blaue Mantel. 
Dem kriegerischen Alterthum galt Krieg und Schlacht als die edelste 
Beschäftigung des Mannes; darum erkannte es in Wuotan vor Allem deren 
Leiter und Lenker, den Vater der Heere, des Sieges und der Gefallenen. 
Als solchen dachte es sich ihn in voller Waffenherrlichkeit, mit Helm, Brünne, 
Schwert und Speer auf hohem, weißem, die Lüfte durchfliegendem Rosse, 
welchem der Norden zur Bezeichnung der Schnelligkeit, womit es dahinstob, 
acht Füße beilegte. Ungleich den griechischen und römischen Göttern, mischte 
sich Wuotan nicht persönlich theilnehmend in die Schlacht, er ordnete, sie nur, 
er lenkte ihr Geschick. Geliebten Helden verschaffte er den Sieg insbesondere 
dadurch, daß er ihnen seine Waffen lieh, an deren Gebrauch die Niederlage 
jedes Feindes geknüpft war. Alle, welche im Kampfe fallen, werden durch 
die Walküren in Wuotan's himmlische Wohnung gebracht. Dort sitzen sie 
mit ihm an einer Tafel, essen mit ihm und trinken Meth, welchen die 
schönen Walküren ihnen kredenzen. Nach dem Mahl ergötzen sich die Helden 
am Kampfe oder sie fahren mit Wuotan zur Jagd aus. Das ist das, was 
wir das wüthende Heer oder die wilde Jagd nennen, welche in jeder Nacht, 
besonders aber in der heiligen Zeit, in den 12 Nächten von Weihnachten 
bis Dreikönigen, unsere Wälder durchtobt. Man vernimmt alsdann Waffen¬ 
lärm, Rosiewiehern und Hufschlag in den Lüften, oder Jagdhörner, 
Jagdgeschrei und Hundegebell. An der Spitze der Schaar sieht man den 
Gott auf seinem weißen Rosse. Wie der Schwede heute noch alsdann 
sagt: Odin fährt vorüber, so sagt der mecklenburgische Bauer: Der Wode jagt. 
*) Eine andere Ableitung ist von wuot, Wuth, lat. furor, der Geist, die 
belebende göttliche Kraft, der furor Teutonicus.
	        
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