Full text: [Abt. 8 = Für Prima] (Abt. 8 = Für Prima)

von Wilamowitz: Der Zeus von Olympia. 
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die Welt. Der athenische Staat hat es freilich so wenig als irgend einer 
vermocht, die individuelle und wirtschaftliche Freiheit des einzelnen neben 
der Allgewalt des Staates, d. h. der organisierten Gesellschaft, durchzu¬ 
führen; aber so notwendig die Erkenntnis ist, daß zwischen zwei wider¬ 
strebenden berechtigten Prinzipien ein Kompromiß geschlossen werden muß, 
so unvergleichlich ist der Reiz des Versuches einer frischen Zeit, die eben 
erst erfaßten Gedanken hoffnungsvoll in die Erscheinung zu führen. Und 
alle Fehlgriffe in der Wahl der Wege werden den Athenern den Ruhm 
nicht nehmen, den Gedanken eines einigen Staates Hellas gefaßt und an 
seine Verwirklichung ihre ganze Kraft gesetzt zu haben. Erst neben diesen 
in gleicher Zeit und aus dem gleichen Sinne unternommenen Versuchen 
kann der Zeus des Pheidias gewürdigt werden, neben der Demokratie des 
Kleisthenes, der Reichspolitik des Aristeides, der Orestie des Aischylos und 
dem Rationalismus des Protagoras. 
Einem jeden bringt das Leben die Lehre, daß der Jugend Blütenträume 
nicht reifen, aber die Erinnerung an die Jugendzeit, da er noch träumen 
durfte, verklärt ihm die grelle oder trübe Wirklichkeit. Es ist auch der 
Menschheit unverloren, daß sie einmal jung gewesen ist, daß sie sich plötz¬ 
lich mannbar fühlte, zu denken wagte und nach den eigenen Gedanken zu 
handeln. Der Seele waren die Flügel gewachsen, sie fühlte sich frei, sie 
versuchte, aller Erdenschwere ledig, sich, wie der Vogel des Zeus, hinaufzu¬ 
schwingen. dem Lichte entgegen. Der Mensch, das Maß der Dinge, wagte 
hienieden Staat und Gesellschaft und Recht und Sitte zu ordnen nach dem, 
was Verstand und Vernunft zu fordern schienen. Das Denken, frei von 
jeder Fessel der Autorität, wagte sich in die Tiefen der Natur und in die 
Höhen der reinen Abstraktion. Das Fühlen und Empfinden zerriß die 
Bande der Konvention, und auch in der dionysischen Ekstase, in den Qualen 
des Prometheus, in den Gewissensängsten des Orestes und den Verbrechen 
Medeias war es sich bewußt, weite Reiche des Gefühls zu durchmessen, 
deren Existenz die Vorzeit nicht geahnt hatte. So waren denn auch die 
Exponenten dieser Gefühle neu geworden, die Götter. Und da wagte die 
Kunst sie leibhaft zu schauen, leibhaft zu bilden. 
Die Jugend ist kurz; der Traum verfliegt. Bellerophontes, der auf 
dem Flügelrösse des Zeus sich emporgeschwungen hat, zu sehen, ob es droben 
Götter gebe, muß stürzen und elend in den Gefilden des Jrrsals Herum¬ 
schweifen — eben in diesem Sinne hat ein athenischer Tragiker die alte Sage 
umgeformt. So ist's auch den Athenern ergangen. Und doch, wenn etwas 
in ihrer Vergangenheit, so ist diese kurze Spanne ihrer Jugend des Ge¬ 
dächtnisses der Menschheit wert. Was ich Ihnen von Olympia erzählt 
habe, das war im Grunde alles totes Wissen, Erinnerung an verstorbene
	        
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