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Zweiter Zeitraum des Mittelalters: 751-1096.
sich Karl der Kahle wiederum, wie einst nach dem Tode Lothar's II., dem
bedächtigeren Bruder die Beute durch kecke Ueberraschung vorweg zu nehmen
und ließ sich, während Ludwig der Deutsche einen Einsall in das Westreich machte,
zu Rom am Weihnachtsfeste 875 (75 I. nachdem sein gleichnamiger Gro߬
vater mit der Kaiserkrone geschmückt worden) vom Papste (Johann VIII.)
krönen, als Kaiser Karl II.
Im nächsten Jahre (876) endigte auch Ludwig der Deutsche in der
Pfalz zu Frankfurt sein vielbewegtes Leben, der als ein kleiner Unterkönig
von Baiern begonnen und durch die Theilung des lotharischen Reiches end¬
lich alle deutschen Stämme unter seinem Scepter vereinigt hatte. Die von ihm
verfügte Theilung des Reiches unter seine drei Söhne, die Konsequenz seines
eigenen Auftretens gegen Vater und Brüder beweist freilich, wie fern ihm
der Gedanke eines abgeschlossenen deutschen Reiches lag. Uebrigens hat sich
in wenigen Zeiträumen der deutschen Geschichte unser Vaterland eines so
lange dauernden, nur durch unbedeutende Grenzkriege unterbrochenen Friedens
erfreut.
Karl der Kahle, welcher seinem Bruder Ludwig Italien durch List
vorweggenommen hatte, wagte schon, auf seine mehr erschlichenen als, er¬
strittenen Erfolge bauend, die kaiserlichen Ansprüche noch weiter auszudehnen
und seine begehrlichen Blicke von dem Sitze der alten Cäsaren, den er so
eben gewonnen, aus den neuen Kaisersitz zu Aachen zu richten. Lothringen,
das schon einmal den Kaiser als seinen Herrn anerkannt hatte und nun
erst seit 6 Jahren dem ostfränkischen Reiche angehörte, suchte er wieder zu
gewinnen und dazu noch, wie man sagte, selbst die ostfränkischen Gaue von
Mainz, Worms und Speyer, um so den Rheinstrom zur Grenze des Ost-
und Westreichs zu machen — er der erste unter den Königen Galliens, der
sich so hoher Dinge vermaß. Diesen Plan hoffte er um so leichter auszu¬
führen, als nach Ludwig's des Deutschen Tode das ostfränkische Reich wieder
in drei Theile zerfiel und deren Inhaber nicht einig unter einander waren.
Mit einem ansehnlichen Heere (50,000 M.?) kam er nach Köln, um durch dessen
Besetzung dem Gegner den Uebergang über den Rhein zu wehren. Ludwig
der Jüngere (reg. 876—882) aber ging mit einem kleinen Heere von Ost¬
franken, Sachsen und Thüringern bei Andernach, an der schmalen Oeffnung
des Maiengaues, über den Rhein und schlug (8. Octbr. 876) die durch einen
Nachtmarsch in beständigem Regen erschöpften Truppen seines Oheims; der
feige Kaiser wurde von der allgemeinen Flucht mit fortgerissen und ruhte
nicht eher, als bis er am Abend des folgenden Tages mit wenigen Be¬
gleitern Lüttich erreicht hatte. Diese Niederlage der Uebermacht erschien den
Zeitgenossen als ein gerechtes Gottesurtheil, als wohl verdiente Züchtigung
frevelhaften Uebermuthes. Es war die erste in der langen Reihe von
Schlachten, in denen deutsche Männer ihre Freiheit und ihre Grenzen gegen
die Ländersucht des westlichen Nachbarn vertheidigten.