von Wilamowitz: Der Zeus von Olympia.
155
die Welt. Der athenische Staat hat es freilich so wenig als irgend einer
vermocht, die individuelle und wirtschaftliche Freiheit des einzelnen neben
der Allgewalt des Staates, d. h. der organisierten Gesellschaft, durchzu¬
führen; aber so notwendig die Erkenntnis ist, daß zwischen zwei wider¬
strebenden berechtigten Prinzipien ein Kompromiß geschlossen werden muß,
so unvergleichlich ist der Reiz des Versuches einer frischen Zeit, die eben
erst erfaßten Gedanken hoffnungsvoll in die Erscheinung zu führen. Und
alle Fehlgriffe in der Wahl der Wege werden den Athenern den Ruhm
nicht nehmen, den Gedanken eines einigen Staates Hellas gefaßt und an
seine Verwirklichung ihre ganze Kraft gesetzt zu haben. Erst neben diesen
in gleicher Zeit und aus dem gleichen Sinne unternommenen Versuchen
kann der Zeus des Pheidias gewürdigt werden, neben der Demokratie des
Kleisthenes, der Reichspolitik des Aristeides, der Orestie des Aischylos und
dem Rationalismus des Protagoras.
Einem jeden bringt das Leben die Lehre, daß der Jugend Blütenträume
nicht reifen, aber die Erinnerung an die Jugendzeit, da er noch träumen
durfte, verklärt ihm die grelle oder trübe Wirklichkeit. Es ist auch der
Menschheit unverloren, daß sie einmal jung gewesen ist, daß sie sich plötz¬
lich mannbar fühlte, zu denken wagte und nach den eigenen Gedanken zu
handeln. Der Seele waren die Flügel gewachsen, sie fühlte sich frei, sie
versuchte, aller Erdenschwere ledig, sich, wie der Vogel des Zeus, hinaufzu¬
schwingen. dem Lichte entgegen. Der Mensch, das Maß der Dinge, wagte
hienieden Staat und Gesellschaft und Recht und Sitte zu ordnen nach dem,
was Verstand und Vernunft zu fordern schienen. Das Denken, frei von
jeder Fessel der Autorität, wagte sich in die Tiefen der Natur und in die
Höhen der reinen Abstraktion. Das Fühlen und Empfinden zerriß die
Bande der Konvention, und auch in der dionysischen Ekstase, in den Qualen
des Prometheus, in den Gewissensängsten des Orestes und den Verbrechen
Medeias war es sich bewußt, weite Reiche des Gefühls zu durchmessen,
deren Existenz die Vorzeit nicht geahnt hatte. So waren denn auch die
Exponenten dieser Gefühle neu geworden, die Götter. Und da wagte die
Kunst sie leibhaft zu schauen, leibhaft zu bilden.
Die Jugend ist kurz; der Traum verfliegt. Bellerophontes, der auf
dem Flügelrösse des Zeus sich emporgeschwungen hat, zu sehen, ob es droben
Götter gebe, muß stürzen und elend in den Gefilden des Jrrsals Herum¬
schweifen — eben in diesem Sinne hat ein athenischer Tragiker die alte Sage
umgeformt. So ist's auch den Athenern ergangen. Und doch, wenn etwas
in ihrer Vergangenheit, so ist diese kurze Spanne ihrer Jugend des Ge¬
dächtnisses der Menschheit wert. Was ich Ihnen von Olympia erzählt
habe, das war im Grunde alles totes Wissen, Erinnerung an verstorbene