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Das Neunzehnte Jahrhundert
Als ein großes gemeinsames Gut aller Kulturvölker endlich gilt all
das, was von den einzelnen Nationen und Rassen, und insonderheit der
germanischen Rasse, in Wissenschaft und Kunst erarbeitet worden
ist. Was in Frankreich und England, und dann in überraschend schnellem
Ausflug auch in Deutschland und Amerika den technischen Wissenschaften
an Maschinen-, Brücken-, Dampfer-, Hoch- und Tiefbauten, an Entdeckungen
und Vervollkommnungen auf dem Gebiete der Elektrizität u. a. gelungen
ist, was die geistigen Wissenschaften erarbeitet haben, fei es auf dem Ge-
biete der Philosophie und Historie (hier besonders Deutschland) oder der
Naturwissenschaft und Medizin, es ist in alle Welt, bis nach Rußland,
Japan und China hineingeströmt, ein großes, geistiges Band um alle
höher entwickelten Nationen der Welt schlingend. Und wenn wir dann
noch hinweisen auf die internationale Macht der Presse, die schier die
ganze Welt umfassenden, so schwierigen und verwickelten Beziehungen des
internationalen Geldmarktes, endlich noch gedenken jener Bestrebungen
der „internationalen" Sozialdemokratie, die Arbeiter, die „Prole-
tarier" aller Länder, zu einer einheitlich geschlossenen Macht zusammen-
zufassen — Bestrebungen, die allerdings wohl nur bei dem leider zu oft
nach dem Ausland schielenden Deutschen einen Widerhall gefunden haben
und anderswo an dem nationalen Sinn der Arbeiter (in England z. B.)
fcheitern werden —, so ergibt sich aus alledem der internationale
Charakter des 19. Jahrhunderts.
2. Individualismus und Sozialismus.
a) Lamprecht hat in seiner groß angelegten deutschen Geschichte den
Gedanken durchzuführen gesucht, daß von anfänglich einfachen Formen
volksseelischen Lebens (Animismns, Symbolismus) durch die Zeitalter des
Typismus und Konventionalismus hindurch eine immer verfeinertere und
verinnerlichtere Kulturstufe erreicht worden sei, daß das deutsche Kultur-
leben schließlich gipfele im Subjektivismus. Wie fraglich es auch sein
mag, ob diese Konstruktion a posteriori dem Entwicklungsverlaus in
seiner Gesamtheit (vgl. dazu z. B. Steinhausens Kulturgeschichte) und im
einzelnen gerecht wird, jedenfalls hat das verflossene Jahrhundert hierin
das Erbe der französischen Revolution angetreten und steht unter dem
Banne des Individualismus, um Lamprechts schärferen Ausdruck
nicht zu gebrauchen.
So ist denn der ganze Zeitabschnitt, was die deutsche Geschichte an¬
langt, auf die wir uns im folgenden beschränken, geleitet von dem Streben
nach politischer Freiheit: das Volk, das durch Blut und Opfer seine
Vaterlandsliebe bezeugt, will aus der erstickend-beengenden Luft des Ab-