Full text: Die Geschichte der neuesten Zeit (Bd. 4)

208 
Zweiter Zeitraum: 1830—1848. 
Bataillone das Kreuzfeuer von 140 russischen Geschützen auszuhalten hatten, 
welche auf dem linken Ufer des Narew auf beiden Seiten der Brücke aus¬ 
gestellt waren. Die besten Truppen der Polen werden haufenweise nieder¬ 
geschmettert. Zu allem Ueberflusse geht den polnischen Geschützen die 
Munition aus. Die Schlacht endete um 8 Uhr. Die Russen hatten 9000 
Leute verloren, die Polen 7000. Die polnischen Generäle beschlossen, am 
folgenden Tage den Rückzug gegen Warschau auzutreten. Diebitsch auf 
der andern Seite, ebenfalls schwer mitgenommen, dachte nicht daran, seinen 
Sieg zu verfolgen. Er ließ die Polen ruhig ziehen. Nicht lange indeß 
überlebte er die Schlacht bei Ostrolenka. Am 10. Juni starb er plötzlich 
in Pultusk, angeblich an der Cholera. Andere behaupten, es sei ihm Gift 
beigebracht worden: in Petersburg sei man unzufrieden mit seiner Krieg¬ 
führung gewesen; man habe ihn auf diese Weise aus dem Wege räumen 
wollen. So viel ist gewiß: der General-Adjutant des Kaisers, GrasOrloff, 
war einige Tage vorher bei Diebitsch angekommen, um sich nach dem 
Zustande der Truppen zu erkundigen, und er verhehlte ihm nicht, daß man 
schlimme Dinge darüber nach Petersburg berichtet habe. Wenige Tage 
darauf, am 27. Juni, starb auch der. Großsürst Konstantin zu Witepsk, 
und merkwürdig, ebenfalls kurz nach der Ankunft des Grafen Orloff. Er 
hatte während des Feldzuges, wobei er eine Abtheilung des russischen 
Heeres befehligte, eine sonderbare Rolle gespielt. Polnische Schriftsteller 
selbst erzählen, daß er sich über den Widerstand der polnischen Truppen 
gefreut habe, vielleicht weil er in ihrer Tapferkeit das Ergebniß seiner 
fünfzehnjährigen Oberleitung zu erkennen glaubte, vielleicht auch aus 
andern Gründen. 
Nach der Schlacht bei Ostrolenka stand die Sache der Polen, trotz der 
erlittenen Verluste, keineswegs so schlecht. Die Hülfsmittel waren noch 
lange nicht erschöpft: die Lücken des Heeres konnten wieder ergänzt werden; 
noch hatte man das Volk in Massen nicht aufgerufen; der polnische Soldat 
hatte während des Feldzuges eine außerordentliche Tapferkeit bewiesen; fast 
immer hatten die Polen gegen eine Uebermacht zu kämpfen, und doch war es den 
Russen noch nicht gelungen, ihnen eine entscheidende Niederlage beizubringen. 
Dagegen hatten die Russen ungeheure Verluste erlitten. Nicht nur das 
Schwert der Polen, sondern auch die Cholera hatte ihre Reihen auf eine 
furchtbare Weise gelichtet. Entbehrten sie doch der nöthigen Verpflegung, 
welche den Polen in reichlichem Maße zu Theil wurde. Die so stolze 
russische Armee war um die Mitte des Jahres fast auf die Hälfte ihres 
ursprünglichen Bestandes herabgesunken. Aber alle Aussicht auf Unter¬ 
stützung der Polen Seitens der übrigen Mächte erwies sich immer mehr als eine 
täuschende: Frankreichs neue Reg'erung war noch zu wenig befestigt 
und auch zu friedliebend, um sich mit Rußland zu verfeinden, England 
war zu sehr mit der Reformbill und der belgischen Frage beschäftigt, um
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.