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H. Die Römer.
westliche Europa nahm die Sprache der Römer an, und seine Einwohner
betrachteten sich als Römer. Die Gesetze und Einrichtungen der Römer er¬
langten eine solche Bedeutung und Dauer, daß sie sogar noch im gegen¬
wärtigen Augenblick fortdauernd ihren Einfluß über Millionen von Menschen
behaupten. Eine solche Entwicklung ist ohne Vergleich in der Geschichte der
Menschheit. Außerdem müssen wir die Größe der einzelnen Individuen und
ihrer Thaten bedenken, den außerordentlichen Charakter der Einrichtungen,
welche die Grundlage von Roms Größe bildeten, und die Ereignisse, welche
an Großartigkeit alle anderen übertreffen; alles dieses gibt der römischen Ge¬
schichte Wichtigkeit und Dauer.
112. parallele zwischen den Kömmt und Griechen.
(Nach Anton Westermann, Geschichte der Beredsamkeit in Griechenland
und Rom.)
Während der Römer reiner Verstandesmensch ist, ist der Grieche reiner
Gefühlsmensch. Die reiche, idealisirte Mythologie der Griechen, ihr lebendi¬
ges, vielgefeiertes Heroenthum, ihr abenteuerliches, durch so manche Sage
und Erinnerung gehobenes Seeleben und die dadurch erzeugte vielfache Be¬
rührung mit fremden Nationen hatte bei ihnen die Phantasie zur vorherr¬
schenden Geistesthätigkeit ausgebildet, diese wiederum bie Poesie frühzeitig
hervorgerufen und der Vollendung nahe gebracht, der Geschichte Anfangs
durch Hinneigung zum Abenteuerlichen einen dichterischen Anstrich gegeben,
und verbunden mit inniger, kindlicher Anschauung der Natur auf der einen
Seite die Kunst, auf der andern die Philosophie ins Leben gerufen. Dieser
Fülle von geistigen Anregungen gaben sich die Griechen mit ganzer Seele
hin, in ihr lernten sie frühzeitig Ersatz suchen für die Mühseligkeiten des
Lebens, während die Römer sich die Bekämpfung dieser Mühseligkeiten zur
Hauptaufgabe des Lebens machten und keinen würdigeren Schauplatz ihrer
Bestrebungen kannten, als das Forum und das Schlachtfeld. Auch die
Griechen hatten ihre dyogä, auch sie bestanden zahllose Kämpfe aus Tod
und Leben; allein das öffentliche Leben in Griechenland war doch ein ganz
anderes als das in Rom. Während die Römer Alles um des Nutzens
willen thaten und alles scheinbar Unnütze ausschlössen, ergriffen die Griechen
jede Sache um ihrer selbst willen, bei ihnen stand alles sinnlich und geistig
Wahrnehmbare in engem Zusammenhange. Ihr öffentliches Leben war Ge¬
selligkeit in höherer Potenz, nichts blieb ausgeschloffen, was dieser Gesellig¬
keit einen höheren Reiz verleihen konnte. Aber eben darin liegen auch die
. Mängel des griechischen Staatslebens. Es fehlte den Griechen die tiefere
Auffassung desselben, und wiewohl sie von glühendem Patriotismus und
Freiheitsliebe beseelt waren, fiel es ihnen doch leichter, politisches Ungemach