112. Parallele zwischen den Römern und Griechen. 413
zu ertragen als zu verhüten: was den Römern Zweck war, das Staatsleben
selbst, war ihnen nur Mittel: daher ging ihnen so oft über der Nebensache
die Hauptsache verloren. Auch die Sprache der Griechen entspricht ganz
ihrem Charakter: in ihr ganz dieselbe Beweglichkeit und technische Verschlun-
genheit, doch ohne das Imposante des wie aus einem Gusse entstandenen
römischen Numerus.
Diese kurze Zusammenstellung beider Völker und ihrer Eigenthümlichkeit
in Sprache und Charakter zeigt, daß es kein Wunder ist, wenn beide, ob¬
gleich in ihrem Ursprünge verwandt, doch in ihrer Fortbildung so weit und
so entschieden von einander abwichen. Denn diese Verwandtschaft war so¬
wohl durch Beimischung fremdartiger Elemente, als durch die Abgeschlossen¬
heit, in welcher die Römer im Laufe mehrerer Jahrhunderte ihren Bildungs¬
gang durchmachten, so gut wie aufgehoben. Nichts desto weniger haben die
Griechen schon früh einen gewissen Einfluß auf die Bildung der Römer aus¬
geübt. Unbezweifelt ist, daß schon in den ersten Jahrhunderten nach Ver¬
treibung der Könige griechischer Cult nach Italien kam, daß griechische Sprache,
griechische Kunst und griechische Sitte zu Rom bekannt war. Und haben
nicht Ennius und Naevius griechische Bildung gehabt? Hat nicht Ennius
den Hexameter von den Griechen entlehnt? Haben nicht Fabius und Cin-
cius, Roms erste Historiker, in griechischer Sprache geschrieben?
113. Die Nationalsage der Römer von der Gründung ihrer
Stadt.
(Nach Max Nägele, Studien über altitalisches und römisches Staats- und
Rechtsleben.)
König Procas von Alba longa hatte zwei Söhne, den Numitor und
Amulius. Der ältere, Numitor, ererbte vom Vater den alten Thron der
Silvier. Gewalt ging jedoch vor Recht; Ämulius, die Ansprüche und das
Alter des Bruders verachtend, stieß ihn vom Thron und bemächtigte sich der
Herrschaft in Alba. Er ließ des Numitor's Sohn auf der Jagd ermorden;
die Tochter Rea Silvia nahm er mit dem Scheine hoher Ehre unter die Zahl
der Vestalinnen auf, und vereitelte so jede Aussicht auf Fortpflanzung von
Numitor's Stamm. Aber das Geschick hatte Roms und seiner Weltherrschaft
Anfang beschlossen; und so geschah es denn, daß die Vestalin Silvia vom
Mars Zwillingsknaben gebar. Amulius befahl sofort, die Mutter und die
Knaben zu todten, und zwar die letzteren in die Tiber zu werfen, welche durch
die winterlichen Regengüsse weit über ihre Ufer getreten war und damals
überhaupt am Fuß des palatinifchen Berges in ausgedehnterem Strombette
hinfloß. Die Knaben wurden in einer Wanne den Wellen an einer öden