Full text: Erbauliches und Beschauliches (Teil 1, [Schülerbd.])

35. Wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten. 31 
Reisenden aber sprachen unterwegs noch immer von ihrem 
Vater in Pensa, und als sie in Bialystock in Polen wohlbehalten 
ankamen und Geld antrafen, schickten sie ihm dankbar das vor¬ 
geschossene Reisegeld zurück. 
35. Wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten. 
Im Winter des Jahres 1841 war es grimmig kalt, und 
wenn jemand auf der Straße ging, so knarrte der Schnee, wie 
wenn man Glasscherben zertritt. In den Hütten der Armen 
wollten am hellen Mittag die Fensterscheiben nicht auftauen. — 
Unweit der holländischen Grenze liegt die alte belgische Stadt 
Antwerpen. In dieser Stadt gibt es schöne, prächtige Straßen 
mit palastähntichen Gebäuden, aber auch enge Gassen mit 
finstern Häusern, aus denen die Armut herausschaut. In 
einer dieser Gassen war ein Haus und in dem Hause eine 
Kammer, und in der Kammer wohnte eine unglückliche Familie. 
Mitten in der Kammer lag in einem dünnen Bettlein ein krankes 
Kind, das aussah, als werde es bald in ein Bettlein getragen 
werden, da man nie mehr hungert und friert. Bei dem Kinde 
aber saß eine dürftig gekleidete Frau, deren Augen gerötet 
waren von den bittern Thränen, die sie geweint hatte. 
„Mutter, Mutter," ries eine Stimme vom Ofen her, in 
dem das letzte Fünkchen längst verglommen war, „ich habe 
Hunger." Es war ein Büblein zwischen fünf und sechs Jahren, 
das also gerufen hatte. Wer ihm aber keine Antwort gab, das 
war die Mutter, und sie wußte, warum. Nach einer Weile 
rief der Kleine abermal: „O, gib mir doch nur em klein wenig 
zu essen; ich kann's nicht mehr aushalten. Sei doch so gut!" 
Jetzt schaute die arme Frau auf mit einem Blick, den 
man da finden kann, wo eineni wider Verhofsen das Todes¬ 
urteil verkündet wird, und sagte: „Johann, sei doch um Gottes¬ 
willen still! Ich sterbe ja selber vor Hunger." 
Als aber bald darauf das Knäblein mit kläglicher Stimme 
seine Bitte wiederholte, da brach der Frau schier das Herz. 
Sie griff unter das Bett, langte ein Kreuzerbrötchen hervor 
und gab es dem Knaben mit den Worten: „Da hast du es. 
Ich hatte es aufgehoben, um deinem Schwesterlein ein Süpplein 
davon zu kochen; aber der arme Wurm wird's nicht mehr 
nötig haben." 
Hastig griff der Knabe nach dem Brötchen; aber als er 
es halb gegessen hatte, brachte er die andere Hälfte der Mutter 
und sprach: „Das'habe ich für das Schwesterlein aufgespart." 
Eine halbe Stunde später kam der Vater nach Hause, 
schaute die Frau mit tiefer Betrübnis an und sagte: „Theres,
	        
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