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Ein jeder hat volle Freiheit in der Wahl seines Berufs und das Recht, gegen
eine gewisse Steuer seiu Gewerbe überall auszuüben. (Gewerbefreiheit.) Ferner
wird niemand seiner Religion oder seines Bekenntnisses wegen mehr verfolgt.
(Religionsfreiheit.) Auch hat jeder Bürger, der nicht in der Verfügung über sein
Vermögen gerichtlich beschränkt ist, der keine Armenunterstützung bezieht, der die
bürgerlichen Ehrenrechte nicht verloren hat, nach zurückgelegtem 25. Lebensjahre
das Recht, bei der Wahl eines Abgeordneten für den Reichstag mitzuwählen. Ebenso
kann er dann selbst gewählt werden, vorausgesetzt, daß er dem Deutschen Reiche
seit mindestens einem Jahre angehört hat. (Wahlrecht.) Jur Besitze der bürger¬
lichen Ehrenrechte ist jeder, der sie nicht infolge strafbarer Handlungen durch
richterliches Urteil verloren hat. Die Folgen dieser Aberkennung sind die Un¬
fähigkeit, in das deutsche Heer oder die Kriegsmarine einzutreten, öffentliche Ämter
und Würden zu bekleideu, in öffentlichen Angelegenheiten zu stimmen, zu wählen
oder gewählt zu werden. Jeder Deutsche darf seine Meinung durch Schrift und
Druck äußern, insofern sie keinen Ungehorsam gegen Gesetz und Obrigkeit, keine
Gotteslästerung oder Unsittlichkeit enthält. (Preßfreiheit.) Jeder Untertan hat
das Recht, die Behörde zum Schutze anzurufen, wenn sein Leben, sein Eigentum,
seine Ehre oder seine Freiheit angetastet wird.
s. Gerichtswesen.
Das Gerichtswesen des Deutschen Reiches und der einzelnen Bundesstaaten
ist im wesentlichen durch die Reichsjustizgesetze geordnet.
In bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Kauf- und Darlehnsgeschäften,
Erbschaftsangelegenheiten, Pacht- und Mietverhältnissen n. s. w.) urteilen a. das
Amtsgericht, b. die Zivilkammer des Landgerichts*), c. der Zivilsenat des Ober¬
landesgerichts**), d. der Zivilsenat des Reichsgerichts. Streitige Sachen im Werte
bis zu 300 Mark und einige andere Gegenstände gehören vor das Amtsgericht,
die übrigen vor das Landgericht. Wer mit dem Erkenntnis des Amtsgerichts
nicht zufrieden ist, kann beim Landgerichte Berufung einlegen. Wer sich bei
dem Entscheide des Landgerichts in erster Instanz nicht beruhigen will, kann an
das Oberlandesgericht appellieren und gegen dessen Entscheidung, wenn der
Wert des Streitgegenstandes mehr als 1500 Jls beträgt, an das Reichsgericht
in Leipzig. Das ist das höchste deutsche Gericht. Gegen 100 der bedeutendsten
Rechtsgelehrten entscheiden hier endgültig die schwierigsten Rechtsfälle.
In Strafsachen entscheiden a. das Schöffengericht, b. die Strafkammer
des Landgerichts, c. der Strafsenat des Oberlandesgerichts, d. der Strafsenat des
Reichsgerichts. Die Schöffengerichte fetzen sich aus emem Amtsrichter und
zwei aus dem Volke gewählten Schöffen znfanunen. Alle drei haben bei der Ab¬
stimmung gleiches Recht. Sie urteilen über sogenannte Übertretnngen und leichtere
Vergehen. Schwerere Vergehen sowie Verbrechen, im allgemeinen jedoch nur solche,
die mit mehr als drei Monat Gefängnis, höchstens aber mit fünf Jahr Zucht¬
haus bedroht sind, kommen vor die Strafkammer des Landgerichts. Bei
dieser wirken Vertreter des Volkes (wie beim Schöffengerichte) nicht mit, sondern
das Urteil wird von fünf gelehrten Richtern gefällt. Über die schwersten Ver¬
brechen (Mord, Meineid, Brandstiftung u. s. w.) urteilen die Schwurgerichte.
*) Das Landgericht zerfällt in zwei Abteilungen: Zivilkammer und Strafkammer.
**) Das Oberlandesgericht zerfällt ebenfalls in zwei Abteilungen: Zivilsenat und
Strafsenat. Desgleichen das Reichsgericht.
Kahnmeti er u. S ch n lz e, Geschichte für Knabenschulen. III. 18