Full text: Provinz Westfalen und die Fürstentümer Waldeck, Schaumburg-Lippe und Lippe (H. 9)

— 10 — 
gemeinen Reichsgerichten. Andererseits beschränkten sie sich 
ausschließlich aus das sogenannte peinliche Recht, wobei es 
sich um Leben und Tod handelte, und machten sich besonders die 
Bestrafung einer bestimmten Art von Verbrechen „gegen Gott, 
Ehre und Recht zur Aufgabe. Dabei umgaben sie sich aus 
guten Gründen mit allen Schreckmitteln eines geheimen 
Justizverfahrens. Zwar gab es auch jetzt noch öffentliche 
Sitzungen; aber daneben wurden andere eingerichtet, an denen 
nur Freischöffen unter dem Vorsitz des Freigrafen teilnehmen 
durften. War in diesen „stillen Gerichten" ein Angeklagter 
schuldig befunden, so wurde die Acht über ihn ausgesprochen. 
Ursprünglich hatte jeder Schöffe die Pflicht, ein gesprochenes 
Urteil, wo und wie er konnte — natürlich gleichfalls heimlich 
— zu vollstrecken; später wurden dazu wohl auch einzelne 
Männer bestimmt. Bei der Ausdehnung der Thätigkeit über 
das ganze Reichsgebiet wurden geheime Erkennungszeichen für 
die „Wissenden" eingeführt. Die Aufnahme unter ihre Zahl 
geschah in sehr feierlicher Weise, und zwar stets vor einem west- 
Mischen Freistuhle. Der Aufzunehmende beschwor in einer 
altertümlich-feierlichen Formel, daß er die Veme völlig geheim 
halten wolle und daß er alles vor sie bringen werde, was vor 
sie gehöre. Dann erfuhr er die heimliche Losung, die vier 
rätselhaften Worte „Strick, Stein, Gras, Grein" und vor allem 
ihre Erklärung. Auf Verrat des Geheimnisses stand Todes¬ 
strafe. Freischöffe konnte jeder erprobte freie Mann vom Land¬ 
mann bis zum Kaiser werden. Das heimliche Gericht, das 
übrigens von Kaiser und Reich als durchaus gesetzlich aner¬ 
kannt war, durfte nur auf westfälischem Boden, auf „roter 
Erde" „gehegt" werden, und auch da nur auf den altbekannten 
Malstätten unter einer Eiche oder Linde, an einem Hagedorn 
oder Hollunder; nie also hielt es, wie man es wohl in unseren 
Ritterstücken sieht, seine Sitzungen in unterirdischen Räumen ab. 
Die Veme findet ihre Rechtfertigung in der furchtbaren Zeit, 
in der sie auskam. Verfolgte und Bedrückte aus allen deutschen 
Gauen suchten und fanden hier Schutz. Erst als ruhigere 
Zeiten kamen und das Volk wieder Vertrauen zu den regel¬ 
rechten Gerichten faßte, verschwanden die Vemgerichte all¬ 
mählich von selbst. Aber kümmerliche Reste erhielten sich bei den 
zähen Westfalen bis in unser Jahrhundert. Das Volk erzählte 
sich noch lange davon, zum Teil mit den wunderlichsten Übertrei¬ 
bungen. Und machen die heimlichen Richter nicht auch auf uns 
noch einen fürchterlichen Eindruck, wenn wir sie in Göthes 
„Götz von Berlichingen" oder Kleists „Käthchen von Heilbronn" 
vor uns sehen?
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.