Die Rogation des Tiberius Gracchus.
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33. Die Rogation des Uiberius Gracchus.
Plutarch, Tiberius Gracchus^).
Sobald Tiberius zum Volkstribun erwählt worden war, entschloß er sich
eine gerechtere Verteilung des Grundbesitzes zu erstreben. Er entwarf einen
Gesetzesvorschlag, demzufolge die bisher widerrechtlich benützten Grundstücke
gegen angemessene Entschädigung herausgegeben und den hilfsbedürftigen Bürgern
überlassen werden sollten^).
Die Reichen und Güterbesitzer wurden von Zorn und Erbitterung erfüllt
und gaben sich alle Mühe das Volk von Tiberius abwendig zu machen, indem
sie erklärten, er wolle die vorgeschlagene Landesverteilung nur benützen um
die bisherige Verfassung zu stürzen und eine allgemeine Revolution herbei-
zuführen.
Sie richteten jedoch damit nichts aus. Denn Tiberius stritt für eine so
schöne und gerechte Sache mit einer bestrickenden Beredsamkeit. Er war un-
überwindlich, wenn er auf der vom Volke umringten Bühne stand und von den
Armen in folgendem Tone sprach:
„Die wildey Tiere, die in Italien Hausen, haben ihre Gruben; jedes von
ihnen weiß seine Lagerstätte, seinen Schlupfwinkel. Nur die, welche für Italien
fechten und sterben, können nichts ihr eigen nennen als das Tageslicht und
die Luft, welche sie atmen. Unstät, ohne Haus und Wohnsitz, müssen sie mit
Weib und Kind im Lande umherstreifen. Die Feldherrn lügen, wenn sie vor
der Schlacht die Soldaten ermuntern ihre Grabmäler und Heiligtümer gegen
die Feinde zu verteidigen; denn von so vielen Römern hat keiner einen väter-
*) Plutarchos aus Chäronea in Böotien lebte von 46 bis 120 n. Chr. Er war
unter den Flavischen Kaisern Lehrer der Philosophie in Rom, verbrachte aber einen
großen Teil seines Lebens in seiner Heimat. — Sein bekanntestes Werk sind die
46 Parallelbiographien ausgezeichneter Männer Griechenlands und Roms; es ist hier
immer ein Grieche und ein Römer zur Vergleichung nebeneinander gestellt.
2) Den wesentlichen Inhalt der von Tiberius beantragten lex Sempronia agraria
kann man dahin zusammenfassen:
1. Niemand soll mehr als 500 Jugera (etwa 140 ha) vom ager publicus besitzen.
2. Jedoch soll es jeder Familie gestattet sein für jeden noch nicht mündigen Sohn
außerdem 250 Jugera zurückzubehalten.
3. Für die abzutretenden Ländereien wird den gegenwärtigen Inhabern eine an¬
gemessene Entschädigung aus dem Staatsschatz gewährt.
4. Die abgetretenen Ländereien werden in Teilen von 10 Jugera (fast 3 ha) unter
die besitzlosen Bürger verteilt.
5. Doch darf niemand den so erhaltenen Acker wieder verkaufen, verpfänden oder auf
irgend eine Weise aus dem Besitz geben.
6. Mit der Ausführung der Ackerverteilung wird eine vom Volk jährlich gewählte
Kommission von drei Männern betraut. Bei eintretenden Schwierigkeiten steht
ihnen die Entscheidung zu, ob ein Acker Privat« oder Staatseigentum sei.