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langt man von einem Kinde, die wesentlichen Theile eines Banmes zu beschrei¬
ben, so mag es, wenn es botanischen Unterricht gehabt hat, recht wohl damit
sertig werden; aber sür Stilistik ist damit nichts gewonnen. Stellt man ihm
dagegen als Aufgabe: Mein Lieblingsbaum, oder: Der einsame Baum, oder:
Die alte Birke u. s. w., und läßt es dann nach Herzenslust und bester Phanta¬
siekraft davon erzählen, so wird alles das in ihm thätig werden, was eben nö¬
thig ist, um Leben und Subjectivität in die Sprache zu bringen, d. h. um Stil
zu gewinnen. Wenn mir in einem solchen Aufsatze der Schüler ein Würmchen
an einem grünen Blatte des Baumes, einen seltsamen Riß in seiner Rinde,
einen zufälligen Schimmer der Sonne, kurz, etwas Individuelles, momentan
Wahres, Erlebtes vorführt, so habe ich mehr Freude daran, als an der voll¬
kommensten botanischen Zergliederung; denn nur in jenem erkenne ich lebensvolle
Anschauung und geistiges Ergreifen der Natur, d. i. Quelle von Idee und Dar¬
stellung; in dem andern aber nichts als todten Begriff. Ich hatte geglaubt,
daß sich das alles durch die gegebenen Stücke des ersten Abschnittes thatsächlich
erläutern würde; aber zu meinem Verwundern hat man sich an den vielen mo¬
mentanen, individuellen Epithetis vielfach gestoßen, statt sie zu begrüßen. Um,
wenn auch nothdürftig und matt, das Wesen jener Stücke und der danach zu
stellenden Aufgaben mit einem Worte, mit einem Schulterminus, zu bezeichnen,
will ich sagen: Erzählende Beschreibungen.
4. Zweifelhaft war ich darüber, ob ich dem Buche nunmehr «uch einige
praktische Anhänge beifügen sollte, namentlich die gewöhnlichen Formulare für
Briefe und Geschäfts-Aufsätze, ein Verzeichniß von Aufgaben und dergl. Für
nöthig halte ich es nicht, sonst würde es geschehen sein. Entschiedene Wünsche
sind mir darüber nicht bekannt geworden.
Bedburg, am 19. November 1844.
Zur vierten Auslage.
1. Was bei der dritten Auflage bemerkt worden ist, gilt auch bei dieser
vierten, daß nämlich wesentliche Veränderungen weder vorgenommen, noch auch
als nöthig oder förderlich erachtet worden sind. Wohl aber gestattete es die
rasche Folge der neuen Auflage, wiederum ohne Erhöhung des Preises dem na¬
türlichen Wunsche nach Vermehrung nachzukommen, so daß die gegenwärtige
Auflage über hundert Stücke mehr enthält, als die erste. Es ist dabei theils die
größere Auswahl für Declamationen, theils die Vervollständigung des Dichter-
Verzeichniffes berücksichtigt worden. Außer den poetischen Zusätzen hat aber auch
der fünfte Abschnitt des prosaischen Theiles: Didaktisches und Reflexionen,
eine Erweiterung erhalten, und zwar erstens, um den darin bezweckten Kreis der
wichtigsten Lebensideen möglichst zu vervollständigen, und zweitens, um einen
reicheren Stoff für abstracto Entwicklungen in der Tertia als Uebungsstufe zu
den oberen Klaffen zu bieten. Denn bis Tertia einschließlich sollte das Buch
nicht nur ausreichen, sondern auch gerade durch diese Ausdehnung des Cursus
erst seine volle Eimoirkung üben.
2. Dabei finde ich mich veranlaßt, über die Vertheilung der Abschnitte nach
den verschiedenen Klassen einiges beizufügen, oder vielmehr das in der Einlei¬
tung unter 6, 4 Gesagte noch einmal hervorzuheben. Es ist nämlich eine we¬
sentliche Eigenschaft alles Schönen, daß es für jede Alters- und Bildungsstufe
schön bleibt und immer neue Seiten der Betrachtung bietet; es kann kein Kinder-
gedichtchen wahrhaft schön sein, wenn es nicht zugleich für den Erwachsenen
Nahrung und Idee enthält. Und so soll auch in einem Deutschen Lesebuche,
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