Object: Deutsches Lese- und Bildungsbuch für höhere katholische Schulen

Weiches Grün den Stengel zieret, 
Blüte trägt des Himmels Helle, 
Leis' vom'Westhauch angerühret, 
Wogt sie sanft in blauer Welle. 
Ist die Blüte dir entfallen, 
Zieht man dich aus dunkler Erden, 
Darfst nicht mehr in Westhauch wallen, 
Mußt durch Fen'r zu Silber werden. 
Und die Hand geschäft'ger^Frauen 
Rührt dich unter muntern Scherzen; 
Klar, wie Mondschein anzuschauen, 
Bist du theuer ihrem Herzen. 
In dem blanken Mädchenzimmer, 
Leis berührt von zartem Munde 
Schön verklärt von Sternenschimmer, 
Wird dir manche liebe Stunde. 
Nächtlich in des Landmanns Hütte, 
Wo ein flammend Holz die Kerze, 
In viel' munt'rer Mägdlein Mitte, 
Bist du bei Gesang und Scherze. 
Draußen brausen Sturm, Gespenster; 
Wand'rer wird der Sorg' entladen, 
Sieht er hinter hellem Fenster 
Heimisch deinen gold'nen Faden. 
Zarten Leib in dich gekleidet, 
Tritt das Mägdlein zum Altare, 
Liegst ein segnend Kreuz gebreitet 
Schimmernd über dunkler Bahre. 
Bist des Säuglings erste Hülle, 
Spielest lind um seine Glieder, — 
Bleich, in dich gehüllt und stille, 
Kehrt der Mensch zur Erde wieder. 
Justinus Kerner. 
52. Die Sprüche der Wärnne. 
Aenn Mitternacht die Fluren deckt 
tknd Schweigen in allen Räumen, 
Beginnt im Hain, auf Waldeshöh'n, 
Und wo nur immer Bäume steh'n, 
Ein neues Leben zu keimen. 
Die Bäume halten Zwiesprach nun 
Und brechen das lange Schweigen. 
Da regt sich's, flüstert, rasselt und lauscht's, 
Da säuselt, lispelt, weht und rauscht's 
Lebendig in allen Zweigen. 
Die schlanke Pappel spricht und hält 
Die Arme zum Himmel erhoben: 
„Dort oben rauscht des Segens Quell, 
Dort oben ist's so schön und hell, 
Drum streb' ich sehnend nach oben." 
Die Weide blickt zu Boden und spricht: 
„Zur Erde strebt mein Verlangen, 
So warm, so traulich ist's bei ihr, 
Da glühen Früchte und Blumenzier. 
Drum will mein Arm sie umfangen." 
Da spricht der Apfelbaum: „Ich bin 
Mir Blüt' und Frucht gesegnet; 
Doch blickt wer zu mir sehnsuchtsreich, 
Da schüttl' ich gern mein Haupt sogleich, 
Daß Blüten und Frücht' es regnet." 
Es spricht die Tanne guten Muths: 
„Ob ich an Blüten auch darbe, 
Mein Reichthum ist Beständigkeit, 
Ob Sonne scheint, ob's stürint und schneit, 
'Nie ändr' ich meine Farbe!"
	        
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