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I. Römer und Germanen.
Reich zog die Truppen, die seine Grenzen schützen sollten, zurück, um sich
gegen die Hunnen zu verteidigen. Die Folge war, daß germanische
Stämme über die uubeschützte Grenze zogen und sich im Römischen Reiche
ansiedelten. Wie wenu das Weltmeer in wilder Empörung aus seinen
Usern getreten wäre, um das Festland unter seinen Wogen zu begraben,
so stürzten die Fluten der Völkerwandrung hinein in das Römische
Weltreich. Niemals war die Verwirrung iu der Welt größer, nie ihr
Zustand trostloser als in jener Zeit.
Von den Hunnen vertrieben, hatten die Westgoten im Römischen
Reiche Aufnahme gesunden und dienten in den Heeren Roms um Sold.
Da dieser nicht regelmäßig bezahlt wurde, zog der junge König Alarich
nach Italien. Im Jahre 410 hatte Rom fürchterliche Plünderungen von
seinen Scharen zu erleiden. Alles, was die Bürger an Gold und Kost¬
barkeiten besaßen, fiel den Goten zum Cpfer. Nur das Leben wollte
ihnen Alarich lassen, wie er sich selbst ausdrückte. Seltsamerweise achteten
die Barbaren die Schätze und das Asylrecht der Kirche. Wer in einer
Kirche Schutz suchte, war sicher vor Verfolgung.
Von Rom gedachte Alarich nach Sizilien und Afrika zu ziehen.
Dieses Ziel hat er nicht erreicht. In Unteritalien, in der Nähe der
Stadt Cosenza, ereilte ihn der Tod im 34. Jahre seines Lebens.
Sein Tod war ein schwerer Schlag für das Volk. Die Gefahr
war groß, daß die Häuptlinge diese Gelegenheit benutzten, ihre alte
Selbständigkeit wiederzugewinnen. Einige mögen sich auch von dem
Volke losgelöst haben; aber die Masse hielt zusammen, wählte Alarichs
Schwager Athauls zum Könige und ehrte den Alarich durch eine gro߬
artige Leichenfeier. Bei Cofenza in Kalabrien fließt ein kleiner Fluß,
der Buseuto. Sie leiteten ihn ab, und in seinem leeren Bette mußten
dann zahlreiche gefangene Römer eine tiefe Grube auswerfen, in die sie
den Leichnam Alarichs mit vielen Schätzen hinabsenkten. Dann mußten
die Gefangenen den Damm durchstechen, der das Wasser ablenkte, und
als der Fluß wieder in dem alten Bette rauschte und das Grab ver¬
deckte, da wurden die Gefangenen getötet, damit keiner verrate, wo das
Grab sei1).
Athauls war ein würdiger Nachfolger des Alarich. Nicht groß von
Gestalt, aber schön und gewinnend, dabei vou hervorragender Klugheit
und wie Alarich fest entschlossen, seine Goten zu einem Kulturvolle zu
erheben. Noch zwei Jahre blieb Athauls mit den Goten in Italien,
ohne daß es zu erheblichen Kämpfen ober zu einem Friedensschlüsse ge¬
kommen wäre. Dann zog er nach Gallien.
*) August Graf von Platen, der Dichter des Busentograbes, hat umfassende Aus¬
grabungen in dem Flußbette veranstaltet, um die Spur des Grabes zu finden;
ohne Erfolg.