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Stadt, daß die Verteidiger Mund und Augen nicht öffnen konnten und die
Wache der Mauer verließen. Hierauf ließ der Herzog in aller Schnellig¬
keit die Balken, die sie den Feinden entrissen hatten, auf den Belagernngs-
turm bringen und von dort nach der Mauer hinüberlegen. Darauf legte
man die bewegliche Wand des Turmes, und so erhielt man eine sehr starke
Brücke. Jetzt drang vor allen anderen der Herzog Gottfried mit seinem
Bruder Eustachius in die Stadt und ermahnte die übrigen, ihm nachzu¬
folgen. Es folgte ihm auch alsbald eine unermeßliche Anzahl von Rittern
und Fußgängern nach. Viele konnten es nicht mehr erwarten, bis sie über
die Brücke hineinkämen, sondern stellten Leitern an die Mauer, stiegen daran
hinauf und drangen in die Stadt. Die Feinde flüchteten sich von den
Türmen und Mauern nach den engen Straßen der Stadt. Nun öffneten
die Unsern das Thor gegen Mitternacht und ließen das ganze Volk herein,
das draußen wartete. Sofort durchzog der Herzog mit den ©einigen in
geschlossenen Gliedern mit gezückten Schwertern und mit Schilden und
Helmen bedeckt, die Straßen und Plätze der Stadt. Sie hieben alle Feinde,
die sie fanden, ohne Rücksicht auf Alter oder Rang nieder. Es lagen überall
so viele Erschlagene und solche Haufen abgeschlagener Köpfe umher, daß
man keinen anderen Weg mehr finden konnte als über Leichen. Die Sieger
selbst wurden mit Schauder erfüllt. Der größte Teil der Bewohner der
Stadt hatte sich nach dem Tempel geflüchtet, weil dieser entlegen und stark
befestigt war. Aber auch hier drangen die Christen ein und stießen, was
sie fanden, mit den Schwertern nieder. Hier sollen gegen 10 000 Feinde
umgekommen sein. Als die Stadt völlig unterjocht war und die Bürger
getötet waren, verordneten die Fürsten, daß jeder Turm mit Wachen be¬
setzt werden sollte. Dann legten sie die Waffen nieder, wuschen sich die
Hände, zogen reine Kleider an und gingen demütigen und zerknirschten
Herzens an den Orten umher, die der Erlöser durch seine Gegenwart ge¬
heiligt hatte.
28. Jkt&atolJas Toll. 1190.
(Aus dem Briefe eines ungenannten Kreuzfahrers an einen Kirchensürsten. Er erzählt
darin den Zug des Kreuzheeres durch Ungarn bis nach Kleinasien und die Gefahren
und Kämpfe, welche es zu erdulden hatte.)
1. Die Bedrängnisse der Kreuzfahrer. Bald begann unter uns
große Hungersnot zu herrschen. Wein und Mehl fehlten ganz, und oft
genug habe ich mit den anderen Pferdefleisch essen müssen. Es fielen aber
die Pferde durch Hunger, weil wir weder Getreide, noch Saat, noch Gras
fanden. Dazu umschlossen uns die Türken bei Tag und Nacht so enge,
daß niemand das Lager zu verlassen vermochte. Am Mittwoch vor Pfingsten