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Staaten statt über den Anschluß dieser Staaten an den Norddeutschen
Bund. Aber mit der Vereinigung allein waren Fürsten und Volk
nicht zufrieden; man wünschte, daß auch die altehrwürdigeu Namen
des Deutschen Reiches und des Deut scheu Kaisers wieder
auflebten. Im Namen aller deutschen Fürsten richtete daher der junge
König Ludwig II. vou Baieru an den König Wilhelm die Bitte,
die Würde eines deutschen Kaisers anzunehmen; auch der Reichstag
des Norddeutschen Bundes sprach dieselbe Bitte aus.
König Wilhelm glaubte diesen Wünschen nicht widerstehen zu
dürfen. Der 18. Januar 1871 wurde als Tag der feierlichen
Kaiser-Proklamation festgesetzt; es war derselbe Tag, an dem vor 170
Jahren das damalige Kurfürstentum Brandenburg zum Königreiche
Preußeu erhoben worden war.
Die Fahnen und Standarten aller um Paris lagernden Truppen¬
teile waren nach Versailles beordert worden; ebenso waren Abord¬
nungen sämtlicher Regimenter erschienen. Auch alle auf französischem
Boden weilenden deutschen Fürsten und Prinzen, sowie die höheren
Befehlshaber waren, soweit die Kriegslage ihre Abwesenheit von ihren
Truppen erlaubte, in Versailles erschienen.
Mittags 12 Uhr begab sich der König von seinem Hauptquartiere
nach dem prächtigen Schlosse. Während er hier, umgeben von den
Prinzen, den Fürsten, Generälen und Ministern, noch einige Augen¬
blicke in deu Vorzimmern der Festräume verweilte, hatte sich in dem
berühmten S p i e ge l s a a l e, wo die Festlichkeit stattfinden sollte, die
Versammlung geordnet. Rechts und links von dem mit einer roten
Decke bekleideten Altare standen die Truppen, die die Fahnen nach
Versailles begleitet hatten. Die Fahnen selbst hatten ihren Platz aus
einer niedrigen Erhöhung seitwärts von dem Altare. Die Zahl der
anwesenden Offiziere betrug zwischen fünf- und sechshundert.
Bald nach 12 ‘/4 Uhr trat der König in deu Festsaal ein, während
ein ans Soldaten gebildeter Sängerchor ein kirchliches Lied vortrug.
Der König nahm in der Mitte vor dem Altare Anstellung, im Halb¬
kreise um ihn die Prinzen nnd Fürsten. Ein Geistlicher sprach ein
Gebet, hielt eine Festrede nnd erteilte den Segen.
Dann schritt der König durch die Versammlung aus die Er¬
höhung zu, verlas vor den Fahnen die Urkunde der Verkündigung des
Kaiserreiches und gab dann dem Bundeskanzler den Befehl, die „Pro¬
klamation an das deutsche Volk" zu verleseu. Nachdem das geschehen
war, rief der Großherzog von Baden mit lauter Stimme: „Seine
Majestät der Kaiser Wilhelm lebe hoch!" Dreimal stimmte die Ver¬
sammlung begeistert in das Hoch ein nnd sang die Nationalhymne:
„Heil dir im Siegerlranz!"