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Wo es sich aber darum handelt, Vergangenes zu
beurtheilen, da dürfen die menschlichen Schwachheiten
gar wohl mit in Anschlag gebracht werden.
4. Wer da richtet, der wird auch wiederum gerichtet werden: denn
indem er sich über seine Mitmenschen erhebt, verblendet er sich gegen seine
eigenen Fehler, und verfällt eben dadurch dem nämlichen Gerichte; dagegen
wer nicht richtet, der wird die Fehler seiner Mitmenschen zu seiner eigenen
Besserung betrachten, und also dem Gerichte entgehen.
5. Wie er selbst gegen seine Mitmenschen gesinnt ist, so werden diese
wiederum gegen ihn gesinnt sein. Wenn er also Mitleid hat mit ihren
Schwächen, so wird er auch Nachsicht finden bei eigenen Fehlern oder Fehl¬
tritten. Und Keiner muß meinen, daß er dieser Nachsicht nicht bedürfe. Vgl.
Horaz Sät. I, 3, 75 und jene ganze Satire.
VI. Pudor sundamentum virtutum.
1. Das Wort pudor, aidajg, ist in dem doppelten Sinn zu fassen,
daß es sowohl die Scheu vor uns selbst (die Selbstachtung), als auch die
Scheu vor anderen bedeutet.
2. „Sich selbst zu achten, leitet unsere Sittlichkeit, Andere zu
schätzen, regiert unser Betragen/' Goethe.
3. Die (Selbstachtung bedingt unsere Sittlichkeit. Um sich selbst achten
zu können, muß man keiner schlechten Handlung sich bewußt sein und auch
jede Befleckung meiden. „Ganz unbefleckt genießt sich nur das Herz."
Iphigenie bei Goethe.
4. Die Achtung Anderer regiert unser Betragen. Man wird in
Gegenwart Anderer nicht allein nichts Unrechtes, sondern auch nichts Un¬
schönes thun, um
a. Ihr Gefühl nicht zu verletzen.
b. Kein schlechtes Beispiel zu geben. Maxima debetur puero
reverentia. Juven. XIV, 47.
c. Nicht einer indiscreten Behandlung ausgesetzt zu sein.
5. Man muß sich auch in Anderen achten d. h. unwürdige Menschen
nicht unwürdig behandeln, nicht so wie es ihrer, sondern so wie es unser
würdig ist, damit sie durch unsere Gegenwart gehoben und durch unseren
Umgang gebessert werden. „Unser Herr Pfarrer kann Jedermann zwingen,
in seiner Gegenwart hochdeutsch zu denken."
6. Wird aber durch die Scheu die Sittlichkeit, die allgemeine und die
eigene, gefördert, so wird eben dadurch auch die Wohlfahrt gefördert.
3 JkllrjXovg cT aiöslad's xccia XQaveQag vo/.iLvag. aiöofievtov ö3 ccvÖqwv
nXsovEg oooi rjs Tcscpavtcu, II. e, 530.
7. Wenn also auf die Scheu so viel ankommt, und eine würdige
Haltung, zauberhaft wirkend, durch ihre bloße Erscheinung zur^ Tugend an¬
reizt, so wie ein leichtfertiges und ungenirtes Benehmen die Schleußen der
Gemeinheit und der Lasterhaftigkeit öffnet, so hat man die Pflicht, nicht
allein an sich Unrechtes und Unanständiges, sondern auch den Schein
desselben zu meiden, und nicht allein sein Herz, sondern auch seinen Ruf vor
Befleckung rein zu erhalten. Pudicum, qui primus virtutis bonos,
servavit ab omni non solum facto verum opprobio quoque turpi.
Horaz Sät. I, 6, 83.