Full text: Die alte Geschichte (Teil 1)

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Harpagos. „Das Kind ist tot," sprach er; „komm selbst und siehe!" 
— Harpagos war aber dazu zu bequem; er schickte einige treue 
Leute hin, welche die Nachricht bestätigten und das Kind begraben 
ließen. 
So wuchs das wunderbar erhaltene Kind auf, wurde groß und 
stark, schon und klug, und erreichte bereits das zwölfte Jahr, als 
— seine Herkunft entdeckt wurde. Es spielte nämlich eines Tages 
mit andern Kindern. Einer sollte König sein, nnd die andern 
sollten seine Minister, Soldaten u. s. w. vorstellen. Da nun der 
Hirtenknabe der Klügste unter ihnen war, so wurde er zum König 
gewählt, und er trug jedem sein Geschäft auf. Es war aber ein 
Knabe darunter, der Sohn eines vornehmen Meders, der durchaus 
nicht gehorchen wollte; der Kinderkönig peitschte ihn daher recht 
tüchtig aus. Der verzärtelte Knabe weinte, lief fort in die Stadt 
und klagte seinem Vater, was ihm widerfahren war. — Der Vater 
bedauerte das Söhnchen gar sehr und ging mit ihm zu Astyages. 
„Siehe, Herr," sprach er, „so ist mein Kind mißhandelt worden! Und 
das hat sich der Sohn eines deiner Rinderhirten unterstanden!" — 
Der König ließ den Hirten holen samt dessen Sohne und fuhr 
den letztem an: „Wie hast du dich unterstehen können, den Sohn 
eines so vornehmen Mannes zu schlagen? Rede!" — „Herr," ant¬ 
wortete der Knabe, „das habe ich mit Recht gethan. Die Knaben 
hatten mich ja zu ihrem Könige gewählt und mußten mir also ge¬ 
horchen. Der Junge aber war ungehorsam und hörte nicht eher, 
bis er seine Schläge bekommen hatte. Konnte ich anders? Machst 
du es nicht auch so?" 
Der König lächelte. Je mehr er aber den Knaben ansah, desto 
nachdenklicher wurde er; denn er fand eine auffallende Ähnlichkeit 
zwischen ihm und feiner Tochter Mandane; er hatte das ganze 
Familiengesicht des königlichen Geschlechts. Dabei stand der Bursche 
so keck da, hatte einen so königlichen Anstand, einen so freien Blick, 
daß sich Astyages gar nicht satt sehen konnte. Endlich ließ er alle 
abtreten; nur den Hirten behielt er bei sich. „Höre," sprach er, 
„mit dem Knaben ist es nicht richtig; sage, woher hast du ihn?" 
— „Herr," antwortete der Hirt, „woher sollte ich ihn haben? Er
	        
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