Full text: Die alte Geschichte (Teil 1)

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ist ja mein Sohn!" — „Du lügst!" schrie der König: „Knechte, 
legt ihn aus die Folter!" — Da siel der Hirt aus die Kniee und 
bekannte alles. „Du magst gehen," sagte Astyages, „aber laß mir 
den Harpagos kommen." 
„Sage mir doch," redete ihn der König an, „auf welche Art 
hast du denn damals meinen Enkel umgebracht?" — Harpagos er¬ 
blaßte; denn er hatte den Hirten gesehen und fürchtete mit Recht, 
daß schon alles verraten sei. Er gestand also die Wahrheit ein 
unb fügte hinzu, der Knabe sei sicherlich tot; seine treuesten Knechte 
hätten ihn selbst begraben. „Nein," sagte Astyages mit dem freund- 
lichiten Gesichte — seinen Ärger verbarg er sorgfältig — „denke 
dir das Gluck: der Knabe lebt noch! Ich habe mir schon lange 
Vorwürfe gemacht, daß ich ihn töten lassen wollte, und darum bin 
ich nun recht froh, daß er erhalten ist." Nun erzählte er ihm die 
ganze Geschichte. „Schicke mir doch deinen Sohn, Harpagos," setzte 
er hinzu, „damit mein Enkel einen Gespielen habe: du selbst komm 
heute abend zum Gastmahle zu mir." 
Harpagos war voll Freuden, daß der König so gnädig war; 
er warf sich ihm zu Füßen und ging vergnügt nach Hanse. Am 
Abenb fand er sich zu gehöriger Zeit ein und setzte sich fröhlich zur 
Tafel. Als der Braten herumgereicht wurde, setzte man dem Har¬ 
pagos einen andern vor als den übrigen Gästen. Er ließ es sich 
trefflich schmecken. Endlich fragte ihn Astyages: „Weißt du wohl, 
was für Braten du gegessen hast?" — „Nein, wahrlich," ant¬ 
wortete er, „ich weiß es nicht!" — „Nun," sprach Astyages zu den 
Bedienten, „so bringt ihm einmal die verdeckte Schüssel da!" — Wie 
bebte der unglückliche Harpagos zusammen, als er den Deckel abhob 
und den Äopf und die Glieder seines Sohnes erblickte! „Merkst 
bu nun," rief ber unmenschliche Astyages über den Tisch, „was für 
Wildbret bas war, welches bir so gut schmeckte? Siehst bu, so 
bestrafe ich ungehorsame Diener!" — Harpagos hatte Fassung genug, 
nichts zu erwibern, als: „Alles, was bu thust, ist vortrefflich!" 
Dann sammelte er bie Überreste seines Äinbes unb trug sie nach 
Haufe, um sie zu begraben.
	        
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