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die schrankenlose Souveränität des Volkes, das also den Regenten
absetzen könne.
Bis zum ödesten Atheismus und Materialismus, der Lehre, daß
das ganze Leben und Denken nur auf der Bewegung der Atome beruhe,
gingen die Encyklopädisten, die Herausgeber der Encyklopädie, eines
großen Sammelwerks alles Wissens. Ihre bedeutendsten Mitarbeiter waren
Diderot und d'Alembert. Durch die Benutzung dieses gelehrten Werkes
sogen die Franzosen das Gist des Unglaubens und der nackten Selbst¬
sucht ein.
Von großem Einflüsse war die Aufklärung auf die Volkswirtschaftslehre.
Quesnay, Leibchirurg Ludwigs XV., wandte sich gegen den herrschenden
Merkantilismus und lehrte, daß allein die Landwirtschaft eine produktive
Tätigkeit entfalte und daß Freigebung aller wirtschaftlicher! Kräfte die beste
Wirtschaftspolitik sei. Der Physiokratismus^) sah die Quelle des National¬
reichtums nicht im auswärtigen Handel, sondern suchte ihn im Grund und
Boden und im Ackerbau. Nur die Landwirtschaft bringe als Geschenk der
Natur einen über die Kosten der Erzeugung hinausgehenden Überschuß von
Produkten hervor; die gewerbe- und handeltreibende Bevölkerung schaffe
keine neuen Güter, sondern wandele die gegebenen Stoffe nur um oder
bringe sie in den Verkehr. Zur Hebung des Ackerbaues müssen die Feudal¬
lasten und die Zollschranken beseitigt werden. Landwirtschaft, Handel und
Industrie sollen volle Freiheit der Bewegung haben. „Laissez faire et laissez
passer“ freie Arbeit! freier Absatz! wurde die Losung der Physivkraten.
Obwohl die Behauptung von der Unproduktivität des Gewerbes und
Handels ganz verfehlt war, hat sich die Lehre doch sehr lange behauptet.
Gegen den Merkantilismus trat auch der Schotte Adam Smith aus.
Er stellte die Arbeit höher als den Grund und Boden und das Kapital.
Sie erziele die höchste Leistungsfähigkeit durch Arbeitsteilung, besonders im
Gewerbe, und durch freien Wettbewerb. Am höchsten müsse das Interesse
der Konsumenten stehen, nicht das der Produzenten.
Andere Folgen der Aufklärung waren auf religiösem Gebiete der
Kampf gegen den Aberglauben, die Hexenprozesse und die Jesuiten, in der
Gesetzgebung die Abschaffung der Folter und Anwendung einer größeren
Milde bei Strasbestimmuugen, im Unterricht Erfahrung und Anschaulichkeit.
Der autokratische oder despotische Absolutismus, dessen Hauptvertreter
Ludwig XIV. war, hatte nach dem Satze „L’etat c’est mol“ regiert. Im
scharfen Gegensatze zu ihm stand der ausgeklärte Absolutismus eines
Friedrich d. Gr., der seine ganze Kraft in den Dienst des Staates stellte
gemäß seinem Ausspruch: „Un prince est le premier serviteur de l’etat.“
*) = Herrschaft der Natur, abgeleitet von (pvatq (Natur) und xqutelv (herrschen).