Full text: Von 102 vor Chr. bis 1500 nach Chr. (Th. 1)

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In der Wissenschaft wie in der Poesie der Geistlichen herrschte noch 
ausschließlich die lateinische Sprache; von den allgemein verbreiteten Volks¬ 
liedern, welche Lob oder Tadel über die Männer der Gegenwart ergossen, 
sind keine Ueberreste auf uns gelangt. — (Der Lobgesang auf den H. Anno 
in deutscher Sprache ist erst aus dem Anfange des 12. Jahrhunderts.) 
Die kirchliche Literatur begann jedoch schon einen sichtlichen Einfluß 
auf die öffentliche Meinung zu üben. „Eine Masse neuer Ideen griff be¬ 
reits im Streite mit der rohen Kraft entscheidend in das Leben ein," wie 
sich insbesondere bei dem Gottesfrieden und dem Jnvestiturstreite zeigte. — 
„Dieses Aufstreben des Geistes kann als das Hauptergebniß der Geschichte 
des 11. Jahrhunderts betrachtet werden".*) # 
Z)ie Groöerung Jerusalems durch Gottfried von ^omffou.**) 
Seit alten Zeiten war es eine schöne und fromme Sitte der Christen, 
daß sie sich versammelten bei den Grabstätten derer, die gestorben waren 
im Herrn, und heiligten mit einander das Gedächtniß derselben in der 
Erinnerung an ihre Werke und in der Zuversicht. Denn es war nicht 
bloß dem Staube wiedergegeben, was vom Staube war, und die Gräber 
schloß nicht der harte Marmor oder die kühle grüne Erde, sondern auf 
ihnen weilte der Glaube und die Liebe, und die Hoffnung schaute hinaus 
in das, was da kommen sollte. Wie das Samenkorn in die Furche fällt, 
daß es keime und grüne, also wuchs aus ihnen ein neues Leben empor, 
nicht ein vergängliches, sondern ein zukünftiges, unvergängliches. 
Vor allen Gräbern in der Welt aber war den Christen eines theuer, 
das gehörte nicht dem Einen oder dem Andern, vielmehr ihnen allen ins¬ 
gesammt, denn in ihm ruhte der Glaube und die Hoffnung Aller. Aus 
ihm war emporgewachsen das neue Leben der Kraft und der Herrlichkeit, 
welches nimmermehr aufhört bis an das Ende der Tage, und darum war 
es das heilige Grab. Um dieses Grabes willen war den Christen heilig 
geworden der Fels, da es heineingehauen war, und Jerusalem, die Stadt 
der Propheten Gottes, und das ganze Land ward ihnen zu einem heiligen 
Lande der Verheißung und des Lebens, wie einst gewesen war das gelobte 
Land der Erzväter und des Volkes Israel. Denn auch die irdische Stätte 
war geweiht, wo der Herr die Worte des ewigen Lebens gesprochen hatte 
vom Reiche seines Vaters im Himmel, wo er gelebt hatte, gelehrt und 
gelitten, wo er gestorben war und auferstanden. Darum zog es die Christen 
von frühen Zeiten hin zum heiligen Grabe, dort wollten sie mit Christo 
sterben, um mit ihm aufzuerstehen. Von den Mächtigen der Erde war am 
Ersten die Kaiserin Helene ausgezogen, um an den heiligen Orten zu beten, 
und in Bethlehem und auf der Höhe des Oelberges hatte sie Bethäuser 
errichtet. Ihr Sohn aber, der Kaiser Constantin, erbaute über dem heiligen 
Grabe eine Kirche aus glänzenden Steinen, die war geschmückt mit statt¬ 
lichen Säulenhallen und mit Gold und Schnitzwerk und aller kaiserlichen 
Pracht. So war dreihundert Jahre nach Christi Tod eine Stätte der 
Anbetung und des Glanzes geworden, was einst eine Stätte der Schmach 
gewesen war. 
*) Stenzel I. 764. 
**) Dr. R. Köpke, Kleine Schriften, herausgeg. von Dr. Kießling. S. 346 ff.
	        
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