Full text: Von 102 vor Chr. bis 1500 nach Chr. (Th. 1)

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sechsköpfigen Sohn. So entstand die älteste Götterdynastie der Eisriesen, 
welche aber bald von einer anderen verdrängt wurde. Mit dem Urriesen 
Amir war nämlich gleichzeitig und in gleicher Weise auch eine Kuh ent¬ 
standen, Audumbla genannt, aus deren Euter vier Milchströme rannen, 
von welchen Amir sich nährte, während die Kuh selbst ftch dadurch erhielt, 
daß sie die salzigen Eisblöcke beleckte. Infolge dieses Leckens kamen am 
ersten Tage aus den Eisblöcken Menschenhaare hervor, zeigte sich am zweiten 
ein Manneshaupt, und am dritten ein ganzer Mann. Er hieß Buri, war 
schön, groß und stark, und zeugte einen Sohn (man erfährt nicht: wie?). 
Namens Börr, der mit Bestla, der Tochter des Riesen Bölthorn, sich ver¬ 
mählte, und mit ihr drei Söhne erzeugte: Odin, Vili und Ve, Götter, 
die den Urriesen Amir erschlugen, und aus seinem Leibe die Erde und den 
Himmel schufen, deren Beherrscher sie, die Stifter der zweiten, der jüngern 
Götterdynastie, natürlich auch wurden und blieben. Denn aus des erschla¬ 
genen Dmirs Wunden floß so viel Blut (die Sündfluth), daß die ganze 
erste Götterdynastie, das ganze Geschlecht der Eis- oder Frostriesen, darin 
ertrank, bis auf Einen, Bergelmir, Dmirs Enkel, der mit seinem Weibe 
in einem Boot (Noahs Arche) sich rettete und so Stammvater des jüngern 
menschenähnlichem Geschlechtes der Elementarriesen wurde, von welchen 
weiter unten noch die Rede sein wird. 
Aus der ungeheuern Masse des von ihnen erlegten Riesenleibes schufen 
die genannten drei ersten Erdengötter die Welt; aus seinem Blute Meer 
und Wasser, aus seinem Fleische die Erde, aus seinen Knochen die Berge, 
aus seinen Zähnen, Kinnbacken und Knochensplittern Felsen und Klippen. 
Aus Amirs Schädel machten sie den Himmel, den sie zu ihrem Wohnsitze 
erkoren, aus seinem Hirn die Wolken; aus Muspellheim los umherfahrende 
Funken festigten sie an das Himmelsgewölbe, um Alles zu erleuchten. Jetzt 
erst folgte die Erschaffung der Menschen; Börrs Söhne erschufen aus 
zwei Bäumen, Esche (Askr) und Erle (Embla), Mann und Weib. Odin 
gab ihnen Seele und Leben, Vili Vernunft und Bewegung, und Ve Antlitz, 
Sprache, Gehör und Gesicht. Den Beschluß der Schöpfung machten die 
Zwerge, welche die Götter aus Würmern bildeten, die in Amirs Leiche 
entstanden; ein an leiblicher Größe und Stärke den Menschen nachstehendes, 
aber an aufgeweckterem Geist und feinerem Sinn sie übertreffendes Ge¬ 
schlecht, in Schluchten und Höhlen, in Ritzen und Spalten der Berge 
hausend. rr 
„Der Monotheismus", sagt ein hochverdienter Forscher, „ist etwas so 
Nothwendiges und Wesentliches, daß fast alle Heiden in ihrer Götter 
buntem Gewimmel, bewußt oder unbewußt, darauf ausgehen, einen obersten 
Gott anzuerkennen, der schon die Eigenschaften aller übrigen in sich trägt, 
so daß diese nur als seine Ausflüsse, Verjüngungen und Erfrischungen zu 
betrachten sind". Deutlicher und reiner als in den Mythologien anderer 
Völker spricht sich dieses Bewußtsein eines höchsten Gottes, eines heiligen 
Urquells aller Dinge nicht allein in vorstehender Schöpfungsgeschichte des 
skandinavischen Mythus, sondern noch in andern Zügen desselben, nament¬ 
lich aber in dem aus, was er von dem einstigen Untergange nicht nur der 
Schöpfung der Götter sondern auch der Götter selbst, und von der 
Erneuerung der Welt lehrte. Denn wie die denselben vorhergegangene 
erste Götterdynastie der Eisriesen in Blut ertränkt worden, so wird auch 
die von Börr abstammende zweite, weil auch sie nur ein Erschaffenes
	        
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