Full text: Von 102 vor Chr. bis 1500 nach Chr. (Th. 1)

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lung der Wahrheit in zweifelhaften Fällen (z. B. des wirklichen Thäters, 
wenn mehrere' eines Verbrechens angeklagt oder verdächtig waren) und des 
Rechtes bei schwierigen, bedenklichen Geschäften, wie z. B. bei Erbthei- 
lungen. Es gab zwei Arten des Loosens; die zur Ergründung und Schlich¬ 
tung gegenwärtiger Dinge bestand im Loosziehen, die zur Erfor¬ 
schung der künftigen im Looswerfen. Zu diesem wie zu jenem Behufe 
zerlegte man den Zweig einer Buche oder Eiche in Stäbchen, die bei dem 
Ziehen des Looses mit den oben erwähnten Hausmarken der Loosenden, 
bei dem Werfen desselben aber mit anderen Zeichen versehen unb_ dann 
auf ein weißes Tuch hingestreut wurden. Erfolgte das Looswerfen in 
öffentlicher Angelegenheit, so hob der Priester, der Ewart der Gemeinde, 
geschah es aber zu Privatzwecken der Hausvater selbst, nach einem an die 
Götter gerichteten Gebet, drei dieser Stäbchen auf und deutete aus den 
ihnen zuvor eingeprägten Zeichen die Zukunft. 
Sollten nun bei diesem wichtigsten Geschäfte der Deutung der größten 
Willkühr der Combination, und damit natürlich des Auslegers, also eines 
Einzigen, nicht Thür und Thor geöffnet werden, was am wenigsten nach 
dem Geschmacke der alten Deutschen war, so mußten die den Loosstäbchen 
eingeprägten Zeichen eine bestimmte allgemeingültige, nach der Art dieser 
Dinge traditionelle Bedeutung haben. Darum wird nicht bezweifelt werden 
dürfen, daß sie in Runen bestanden. Das waren mystische Zeichen von 
dem altnordischen Worte Run so genannt, welches Wissen und Können, 
wie auch die Mittel zur Mittheilung desselben bedeutet; als ihr Erfinder 
galt Odin. Diese mystischen Zeichen, unter welchen man sich indessen keine 
Geheimschrift denken darf, da ja, wie eben erwähnt, jeder Familienvater 
sie zu deuten wußte, waren nun religiöse Anlautzeichen, die den Stäbchen 
eingeschnitten oder eingeritzt wurden, und aus welchen jeder Kundige die 
in Versen ausgedrückten religiösen Formeln bilden und zusammensetzen 
konnte, die jene andeuteten. Schreiberunen oder andere eigene Schrift¬ 
zeichen hatten die Germanen der Urzeit schon deshalb nicht, weil überhaupt 
erst später, bei häufigerer Berührung mit der Römerwelt und fortgeschrit¬ 
tener Bildung, der ganze Gedanke des buchstabierenden Schreibens unter 
ihnen aufkam, weil sie erst von jener die Schreibekunst,_ die Natur eines 
Alphabets kennen lernten. Damals erst, also etwa im dritten oder vierten 
Jahrhundert unserer Zeitrechnung, mögen sie angefangen haben, einzelne 
her uralten einheimischen Zeichen, der Runen, dem lateinisch - griechischen 
Alphabete zum Ausdrücken eigenthümlicher deutscher Laute hinzuzufügen. 
Gleich den Runen galt auch die Dichtkunst, die den Germanen der 
Urzeit so wenig fehlte, wie überhaupt irgend einem Naturvolke, als ein 
Geschenk der Götter. Nach der skandinavisch - deutschen Mythe hatte Odin 
durch List einem Riesen den Besitz eines wunderbaren Meths entrissen, der 
Allen die davon genossen, die schöpferische Phantasie des Dichters verlieh, 
und den köstlichen Trank später auch den Menschen mitgetheilt. Schon 
aus dieser Herleitung der Poesie folgte, daß sie bei den Germanen vor¬ 
nehmlich von den Priestern getrieben wurde, woher es denn auch kam, 
daß die Begriffe von Priester, Prophet und Dichter einander vielfach be¬ 
rührten, Priester mögen daher auch — (denn einen eigenen geschlossenen 
Dichter- und Sängerstand, wie die Barden bei den Kelten, hatten die 
alten Deutschen nicht; die Ausübung der Dichtkunst war bei ihnen einzig 
und allein an die Befähigung dazu gebunden) — zumeist die Urheber, die
	        
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