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lung der Wahrheit in zweifelhaften Fällen (z. B. des wirklichen Thäters,
wenn mehrere' eines Verbrechens angeklagt oder verdächtig waren) und des
Rechtes bei schwierigen, bedenklichen Geschäften, wie z. B. bei Erbthei-
lungen. Es gab zwei Arten des Loosens; die zur Ergründung und Schlich¬
tung gegenwärtiger Dinge bestand im Loosziehen, die zur Erfor¬
schung der künftigen im Looswerfen. Zu diesem wie zu jenem Behufe
zerlegte man den Zweig einer Buche oder Eiche in Stäbchen, die bei dem
Ziehen des Looses mit den oben erwähnten Hausmarken der Loosenden,
bei dem Werfen desselben aber mit anderen Zeichen versehen unb_ dann
auf ein weißes Tuch hingestreut wurden. Erfolgte das Looswerfen in
öffentlicher Angelegenheit, so hob der Priester, der Ewart der Gemeinde,
geschah es aber zu Privatzwecken der Hausvater selbst, nach einem an die
Götter gerichteten Gebet, drei dieser Stäbchen auf und deutete aus den
ihnen zuvor eingeprägten Zeichen die Zukunft.
Sollten nun bei diesem wichtigsten Geschäfte der Deutung der größten
Willkühr der Combination, und damit natürlich des Auslegers, also eines
Einzigen, nicht Thür und Thor geöffnet werden, was am wenigsten nach
dem Geschmacke der alten Deutschen war, so mußten die den Loosstäbchen
eingeprägten Zeichen eine bestimmte allgemeingültige, nach der Art dieser
Dinge traditionelle Bedeutung haben. Darum wird nicht bezweifelt werden
dürfen, daß sie in Runen bestanden. Das waren mystische Zeichen von
dem altnordischen Worte Run so genannt, welches Wissen und Können,
wie auch die Mittel zur Mittheilung desselben bedeutet; als ihr Erfinder
galt Odin. Diese mystischen Zeichen, unter welchen man sich indessen keine
Geheimschrift denken darf, da ja, wie eben erwähnt, jeder Familienvater
sie zu deuten wußte, waren nun religiöse Anlautzeichen, die den Stäbchen
eingeschnitten oder eingeritzt wurden, und aus welchen jeder Kundige die
in Versen ausgedrückten religiösen Formeln bilden und zusammensetzen
konnte, die jene andeuteten. Schreiberunen oder andere eigene Schrift¬
zeichen hatten die Germanen der Urzeit schon deshalb nicht, weil überhaupt
erst später, bei häufigerer Berührung mit der Römerwelt und fortgeschrit¬
tener Bildung, der ganze Gedanke des buchstabierenden Schreibens unter
ihnen aufkam, weil sie erst von jener die Schreibekunst,_ die Natur eines
Alphabets kennen lernten. Damals erst, also etwa im dritten oder vierten
Jahrhundert unserer Zeitrechnung, mögen sie angefangen haben, einzelne
her uralten einheimischen Zeichen, der Runen, dem lateinisch - griechischen
Alphabete zum Ausdrücken eigenthümlicher deutscher Laute hinzuzufügen.
Gleich den Runen galt auch die Dichtkunst, die den Germanen der
Urzeit so wenig fehlte, wie überhaupt irgend einem Naturvolke, als ein
Geschenk der Götter. Nach der skandinavisch - deutschen Mythe hatte Odin
durch List einem Riesen den Besitz eines wunderbaren Meths entrissen, der
Allen die davon genossen, die schöpferische Phantasie des Dichters verlieh,
und den köstlichen Trank später auch den Menschen mitgetheilt. Schon
aus dieser Herleitung der Poesie folgte, daß sie bei den Germanen vor¬
nehmlich von den Priestern getrieben wurde, woher es denn auch kam,
daß die Begriffe von Priester, Prophet und Dichter einander vielfach be¬
rührten, Priester mögen daher auch — (denn einen eigenen geschlossenen
Dichter- und Sängerstand, wie die Barden bei den Kelten, hatten die
alten Deutschen nicht; die Ausübung der Dichtkunst war bei ihnen einzig
und allein an die Befähigung dazu gebunden) — zumeist die Urheber, die