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Eisfelder. In Uri, wo er sehr häufig und anhaltend weht, verdanken
es ihm die Einwohner, daß die Gletscher so wenig tief in die Berg¬
thäler hernnterreichen und die Alpen früher befahren werden können,
als in den meisten gleich hohen Geländen. Dabei ist der Fön zum
großen Glücke der Menschen und Felder ein sehr vorsichtiger Schnee¬
schmelzer und schützt dadurch, daß er durch seine Wärme eine massen¬
hafte Verdunstung der Wassertheile unterhält, die Niederungen vor ge¬
fährlichen Ueberfluthungen der Bcrgwasscr. Dagegen trocknet er die
Blüthe des Apfelbaumes rasch aus und vertilgt die Hoffnung auf eine
Ernte. Auch die Buche und das Haidekorn gedeihet an Abhängen nicht,
wo der Fön häufig anstreicht. §v. ». Tschadi.
74. Oer Genisenjäger,
Der allergefährlichste Feind der Gemse ist der Mansch, der mit
wahrer Tollkühnheit sie verfolgt, und keine Gefahr scheut, sie zu er¬
legen. Nichts in der Welt kann den Jäger von seiner Leidenschaft ab¬
halten, die ihm um so reizender wird, mit je mehr Gefahren er zu
kämpfen hat. Steht ihm seihst das schreckende Beispiel vor Augen,
dass Vater und Grossvater in Abgründe gestürzt und spurlos ver¬
schwunden sind, und weiss er selbst, dass ein ähnliches Schicksal
ihm aufgehoben ist, so vermag er doch nicht, ein ruhiges Leben
dem Tage, ja Wochen langen Umherstreifen vorzuziehen. Der be¬
rühmte Gemsenjäger Heitz aus Glarus, ein Zimmermann, erlegte
aus blosser Jagdlust an neunhundert Gemsen, büsste dieselbe aber
endlich mit dem Leben, indem er in einen Abgrund stürzte. —
Der Gemsenjäger muss einen schwindelfreien Kopf, scharfe Augen,
gute Brust und sichere Füsse haben. Er muss mit Sicherheit über
die steilsten Klippen, neben den gähnenden, schrecklichsten Ab¬
gründen hin, und über Ueberhänge gehen können und dabei vom
Schwindel nichts wissen. Er muss gewohnt sein, über Eisfelder
und Gletscher zu gehen, über Eisklüfte zu springen, Sturm, Unge¬
witter, Kälte und Hunger Trotz zu bieten; dabei eine gute Brust
haben, um die reinste Lust einathmen, und Berg auf, Berg ab ohne
Beklemmung steigen zu können. Allein alles dies hilft nichts, wenn
er kein scharfes Auge hat, und nicht mit der Büchse gut umzu¬
gehen weiss. Seine Rüstung besteht in einem leichten Kleide,
stark benagelten Schüben, woran er die Fusseisen schnallen kann,
einem Alpenstock, einer tüchtigen Büchse, und einem Fernrohr.
In der Jagdtasche hat er Brod und Käse, auch wohl ein Fläschlein
mit Wein oder Branntwein. Kaum dass die Sonne die Gletscher
rölhet, durchspäht er schon mit dem scharfen Auge oder Fernrohr
die höheren Gebirgsregionen, und wandert gegen den Wind, welchen
er erforscht, indem er ein Haar im Winde spielen lässt. Hat er
endlich eine oder mehrere Gemsen erspäht, so stellt er sich an
einen Felsen, und wartet mit vieler Geduld, bis die Gemse sich von
dem Weideplätze zurückzieht, um sie sicherer auf’s Korn zu nehmen.