Full text: Lesestoffe aus allen Teilen der Geschichte (4 = Erg.-Bd.)

Daß sich die Geschichte der hellenischen Nation so ganz anders als 
die Geschichte anderer berühmter Nationen vor unsern Augen ausbreitet, 
ist uicht eine Wirkung des bloßen Znsalls, sondern ihrer Überlegenheit. — 
Die Griechen übertreffen alle Völker der alten Welt durch ihre 
geistigen Schöpfungen. Kein Volk der alten und neuen Zeit hat 
eine so lange Reihe von Jahrhunderten hindurch die Gärten der Musen 
mit einem so glücklichen Erfolge angebaut und in allen Gattungen, aus 
eigener Kraft und ohne alle fremde Einwirkung eine so große Menge 
musterhafter Werke erzeugt. Wäre auch nur ein einziger Dichter wie 
Sophokles, ein Geschichtschreiber wie Thucydides, ein Philosoph wie 
Plato auf uus gekommen, welche Vorstellung müßten wir uus auch dann 
schon von der Bildung der Hellenen machen! Aber nun zieht sich ein 
langer Kranz solcher Heroen von Homer bis zum Longinus herab; und 
obgleich in der spätern Zeit die Flamme der griechischen Genialität er¬ 
mattet, so erlischt sie doch nie ganz, und der feine Kuustsiuu dieser Nation 
erhält sich fast bis zu ihrem Erlöschen, 
Endlich erkennen wir den hohen Standpunkt der hellenischen Bil¬ 
dung auch in den Kunstwerken dieser Nation. Ganz Hellas und alle 
hellenischen Städte waren mit Kunstwerken angefüllt, welche teils die 
Religion, teils das gemeine Wesen, teils die Pietät der Familie forderte. 
Noch sind die Trümmer ihrer Tempel uud öffentlichen Gebäude das 
Wunder der Welt, und selbst die Bruchstücke ihrer Statuen das Studium 
sinniger Künstler. Kein anderes Volk ist fruchtbarer gewesen an Werken 
der Kunst, an hoben und großen Gestalten jedes Charakters. Um einen 
Steinhaufen zu ägyptischen Pyramiden aufzutürmen oder die Hiero¬ 
glyphen eines Obeliskenkegels auszufchleifen oder die kolossale Gestalt 
einer Sphinx auszumauern, ist der geistlose Handwerksfleiß eines emsigen 
Sklavenvolkes vollkommen genug; aber damit die leichte und würdige 
Gestalt eines Apollo in Marmor aufstrebe, damit der Homerische Kro- 
nide, der mit dem Bewegen seines Hauptes den Olymp erschüttert, 
menschlichen Augen erscheine, damit sich die Blüte der Schönheit und 
'üßer Anmut in einer Aphrodite entsalte, mußte die Kunst zum Himmel 
emporsteigen uud ihm Gestalten entwenden, wie sie auf der Erde nicht 
erwachsen. 
Wenn wir so nachgewiesen haben, daß das hellenische Volk alle 
andern Völker der alten Welt an Bildung übertreffen hat, so müssen 
wir ihm auch das hohe Verdienst einräumen, daß es seine Bildung all¬ 
gemein^ mitgeteilt hat, und dadurch ist der Einfluß von Griechen- 
land auf die Bildung des Menschengeschlechtes von univerfalhistorischer 
Wichtigkeit geworden. 
Wie die Blicke des gläubigen Muselmannen bei seiner Andacht nach 
dem Grabe des Propheten, so sind die Blicke aller Freunde der Kunst 
und Humanität nach dem heiligen Lande der hellenischen Kultur ge¬ 
wendet. In einem weit andern und hohem Sinne als Perser, Tataren 
und Araber sind die Hellenen ein weltbeherrschendes Volk gewesen, nicht 
aus der Oberfläche der Erde, sondern in dem Gebiete der Geisterwelt. 
Kein anderes Volk hat hier so weit um sich gegriffen oder feine Erobe-
	        
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