Daß sich die Geschichte der hellenischen Nation so ganz anders als
die Geschichte anderer berühmter Nationen vor unsern Augen ausbreitet,
ist uicht eine Wirkung des bloßen Znsalls, sondern ihrer Überlegenheit. —
Die Griechen übertreffen alle Völker der alten Welt durch ihre
geistigen Schöpfungen. Kein Volk der alten und neuen Zeit hat
eine so lange Reihe von Jahrhunderten hindurch die Gärten der Musen
mit einem so glücklichen Erfolge angebaut und in allen Gattungen, aus
eigener Kraft und ohne alle fremde Einwirkung eine so große Menge
musterhafter Werke erzeugt. Wäre auch nur ein einziger Dichter wie
Sophokles, ein Geschichtschreiber wie Thucydides, ein Philosoph wie
Plato auf uus gekommen, welche Vorstellung müßten wir uus auch dann
schon von der Bildung der Hellenen machen! Aber nun zieht sich ein
langer Kranz solcher Heroen von Homer bis zum Longinus herab; und
obgleich in der spätern Zeit die Flamme der griechischen Genialität er¬
mattet, so erlischt sie doch nie ganz, und der feine Kuustsiuu dieser Nation
erhält sich fast bis zu ihrem Erlöschen,
Endlich erkennen wir den hohen Standpunkt der hellenischen Bil¬
dung auch in den Kunstwerken dieser Nation. Ganz Hellas und alle
hellenischen Städte waren mit Kunstwerken angefüllt, welche teils die
Religion, teils das gemeine Wesen, teils die Pietät der Familie forderte.
Noch sind die Trümmer ihrer Tempel uud öffentlichen Gebäude das
Wunder der Welt, und selbst die Bruchstücke ihrer Statuen das Studium
sinniger Künstler. Kein anderes Volk ist fruchtbarer gewesen an Werken
der Kunst, an hoben und großen Gestalten jedes Charakters. Um einen
Steinhaufen zu ägyptischen Pyramiden aufzutürmen oder die Hiero¬
glyphen eines Obeliskenkegels auszufchleifen oder die kolossale Gestalt
einer Sphinx auszumauern, ist der geistlose Handwerksfleiß eines emsigen
Sklavenvolkes vollkommen genug; aber damit die leichte und würdige
Gestalt eines Apollo in Marmor aufstrebe, damit der Homerische Kro-
nide, der mit dem Bewegen seines Hauptes den Olymp erschüttert,
menschlichen Augen erscheine, damit sich die Blüte der Schönheit und
'üßer Anmut in einer Aphrodite entsalte, mußte die Kunst zum Himmel
emporsteigen uud ihm Gestalten entwenden, wie sie auf der Erde nicht
erwachsen.
Wenn wir so nachgewiesen haben, daß das hellenische Volk alle
andern Völker der alten Welt an Bildung übertreffen hat, so müssen
wir ihm auch das hohe Verdienst einräumen, daß es seine Bildung all¬
gemein^ mitgeteilt hat, und dadurch ist der Einfluß von Griechen-
land auf die Bildung des Menschengeschlechtes von univerfalhistorischer
Wichtigkeit geworden.
Wie die Blicke des gläubigen Muselmannen bei seiner Andacht nach
dem Grabe des Propheten, so sind die Blicke aller Freunde der Kunst
und Humanität nach dem heiligen Lande der hellenischen Kultur ge¬
wendet. In einem weit andern und hohem Sinne als Perser, Tataren
und Araber sind die Hellenen ein weltbeherrschendes Volk gewesen, nicht
aus der Oberfläche der Erde, sondern in dem Gebiete der Geisterwelt.
Kein anderes Volk hat hier so weit um sich gegriffen oder feine Erobe-