— 292 —
Und wieder ist es derselbe Zug, der in der politischen Denk¬
weise, in den Anschauungen der Gegenwart von Staat und Recht sich
als der herrschende zeigt. Politische Fragen sind Rechtsfragen, so
dachte das Naturrecht des achtzehnten Jahrhunderts, so dachte der vor¬
märzliche Liberalismus, so glaubten die Achtundvierziger und sie setzten
ihre Hoffnung auf die siegreiche Kraft der Ideen und deren Fähigkeit zu
moralischen Eroberungen. Politische Fragen sind Machtfragen, so
sprach es Bismarck mit schneidender Schärfe ans, und da ihm die Ge¬
schichte recht gegeben hat, so denkt das deutsche Volk, wie jedes Volk den
jüngsten Erfahrungen am meisten trauend, nunmehr, wie er es gelehrt hat.
Unter den Geschichtsschreibern des jüngsten Zeitalters hat Heinrich
von Treitschke den größten Einfluß auf die politischen Gedanken der
heranwachsenden Generation ausgeübt. Mit der ganzen Kunst seiner
Beredsamkeit predigt er den Satz: Der Staat ist Macht, der Krieg seine
erste, elementarste Lebensbetätigung; er geht so weit, die Ideen des ewigen
Friedens nicht nur für einen logischen Schnitzer, sondern auch für einen
tief unsittlichen Gedanken zu erklären.
In der Kunst und Literatur schafften sich die herrschenden
Elemente sichtbare Symbole. Man stelle sich auf den Platz vor dem
Berliner Schloß und halte Umschau über die Werke aus der ersten und
aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts; sie tragen das Geheimnis, die
Idee, die sie ausdrücken, offen zur Schau. Man vergleiche die Schlo߬
brücke und ihre auf zierliche Postamente gestellten Idealfiguren mit der
Kaiser-Wilhelm-Brücke, mit ihren auf mächtige Granitblöcke gestellten
Riesenrüstzeugen und versäume auch nicht, auf die Lichtträger der letzteren
einen Blick zu werfen: kolossale Balkenarme, die eine Schiffslast heben
könnten, hier aber bloß zufällig einen Leuchter zu tragen haben: sie rufen
dem Vorübergehenden zu: Siehst du, was für ein Ueberschuß von physischer
Kraft vorhanden ist, daß wir selbst für solche Verrichtung Zyklopeuarme
verwenden? Und dann vergleiche man den neuen Dom und das alte
Museum: ist es nicht, als ob er ihm zuriefe: Platz da! was machst du
dich in deiner Niedrigkeit so breit? Und dann durchmustere man die
öffentlichen Denkmäler der Umgebung und die Privathäuser der alten
und neuen Zeit. Und hat man so die Augen auf den Gegensatz ein¬
gestellt, dann durchmustere man weiter die Schöpfungen der Kunst und
der Dichtung des Romans und des Dramas, und überall wird man
Züge entdecken, die unsere Betrachtung bestätigen, bis herab zum Plakat
an der Säule, das nicht mehr mit der ideellen Wirkung auf die Vor¬
stellung, sondern mit der Sinnenwirkung auf das Nervensystem rechnet. —
Und nun das neue Jahrhundert, was wird es uns bringen?
Wenn es dem Philosophen2) gestattet ist, mit einem Wunsch statt einer
Prophezeiung zu antworten, so sei es dieser: Das letzte Drittel des ver¬
gangenen Jahrhunderts hat dem deutschen Volk das Reich, dem Geist
einen Leib gegeben. Das war notwendig. Die Erde ist nicht sür reine
2) D. h. vor 1848 (Märztage in Berlin). — 2) Paulsen war Philosoph
(gest. 1908 in Berlin).