Full text: Lesestoffe aus allen Teilen der Geschichte (4 = Erg.-Bd.)

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Und wieder ist es derselbe Zug, der in der politischen Denk¬ 
weise, in den Anschauungen der Gegenwart von Staat und Recht sich 
als der herrschende zeigt. Politische Fragen sind Rechtsfragen, so 
dachte das Naturrecht des achtzehnten Jahrhunderts, so dachte der vor¬ 
märzliche Liberalismus, so glaubten die Achtundvierziger und sie setzten 
ihre Hoffnung auf die siegreiche Kraft der Ideen und deren Fähigkeit zu 
moralischen Eroberungen. Politische Fragen sind Machtfragen, so 
sprach es Bismarck mit schneidender Schärfe ans, und da ihm die Ge¬ 
schichte recht gegeben hat, so denkt das deutsche Volk, wie jedes Volk den 
jüngsten Erfahrungen am meisten trauend, nunmehr, wie er es gelehrt hat. 
Unter den Geschichtsschreibern des jüngsten Zeitalters hat Heinrich 
von Treitschke den größten Einfluß auf die politischen Gedanken der 
heranwachsenden Generation ausgeübt. Mit der ganzen Kunst seiner 
Beredsamkeit predigt er den Satz: Der Staat ist Macht, der Krieg seine 
erste, elementarste Lebensbetätigung; er geht so weit, die Ideen des ewigen 
Friedens nicht nur für einen logischen Schnitzer, sondern auch für einen 
tief unsittlichen Gedanken zu erklären. 
In der Kunst und Literatur schafften sich die herrschenden 
Elemente sichtbare Symbole. Man stelle sich auf den Platz vor dem 
Berliner Schloß und halte Umschau über die Werke aus der ersten und 
aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts; sie tragen das Geheimnis, die 
Idee, die sie ausdrücken, offen zur Schau. Man vergleiche die Schlo߬ 
brücke und ihre auf zierliche Postamente gestellten Idealfiguren mit der 
Kaiser-Wilhelm-Brücke, mit ihren auf mächtige Granitblöcke gestellten 
Riesenrüstzeugen und versäume auch nicht, auf die Lichtträger der letzteren 
einen Blick zu werfen: kolossale Balkenarme, die eine Schiffslast heben 
könnten, hier aber bloß zufällig einen Leuchter zu tragen haben: sie rufen 
dem Vorübergehenden zu: Siehst du, was für ein Ueberschuß von physischer 
Kraft vorhanden ist, daß wir selbst für solche Verrichtung Zyklopeuarme 
verwenden? Und dann vergleiche man den neuen Dom und das alte 
Museum: ist es nicht, als ob er ihm zuriefe: Platz da! was machst du 
dich in deiner Niedrigkeit so breit? Und dann durchmustere man die 
öffentlichen Denkmäler der Umgebung und die Privathäuser der alten 
und neuen Zeit. Und hat man so die Augen auf den Gegensatz ein¬ 
gestellt, dann durchmustere man weiter die Schöpfungen der Kunst und 
der Dichtung des Romans und des Dramas, und überall wird man 
Züge entdecken, die unsere Betrachtung bestätigen, bis herab zum Plakat 
an der Säule, das nicht mehr mit der ideellen Wirkung auf die Vor¬ 
stellung, sondern mit der Sinnenwirkung auf das Nervensystem rechnet. — 
Und nun das neue Jahrhundert, was wird es uns bringen? 
Wenn es dem Philosophen2) gestattet ist, mit einem Wunsch statt einer 
Prophezeiung zu antworten, so sei es dieser: Das letzte Drittel des ver¬ 
gangenen Jahrhunderts hat dem deutschen Volk das Reich, dem Geist 
einen Leib gegeben. Das war notwendig. Die Erde ist nicht sür reine 
2) D. h. vor 1848 (Märztage in Berlin). — 2) Paulsen war Philosoph 
(gest. 1908 in Berlin).
	        
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