Full text: Handbuch der Israelitischen Geschichte von der Zeit des Bibel-Abschlusses bis zur Gegenwart

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auch 63 kleine Kinder ihren Eltern entreissen und ihnen die Nahrung entziehen. 
Unglücklicherweise wurden die Juden auf der Insel Rhodus zur selben Zeit des 
Mordes eines jungen Griechen, der sich erhängt hatte, beschuldigt und durch un¬ 
menschliche Folterqualen zum Geständniss gebracht. Nun erhob sich in ganz 
Syrien und der Türkei ein Sturm gegen die Juden: die Yolkswuth überliess sich 
den zügellosesten Ausschweifungen: in Damaskus, Beirut und ändern Orten 
wurden die Synagogen entweiht und die Juden misshandelt. 
Als die Kunde von diesen schauderhaften Vorgängen nach Europa gelangte, 
wurden die Juden aller Länder von tiefstem Schmerz ergriffen. Die Juden in 
Frankreich und England verbanden sich zu einer gemeinschaftlichen Action. 
An der Spitze der französischen Juden stand Adolph Cremieux (geb. zu Nimes 
1796), der schon damals als ausgezeichneter Redner und Vorkämpfer gegen Vor- 
urtheile bekannt war. In einer Versammlung der angesehensten Männer Londons 
wurde sodann unter dem Vorsitze Moses Montefiore’s (geb. in Livorno 1784) 
beschlossen, einflussreiche Juden nach dem Orient zu schicken, um die Bosheit 
der Blutanklage darzulegen und die Opfer des Fanatismus zu retten. Mit 
edler Menschenliebe nahmen sich auch die europäischen Regierungen der Sache 
an. Metternich und Palmerston thaten energische Schritte zu Gunsten der Be¬ 
drückten, selbst der Kaiser von Russland drückte den Wunsch aus, das solche 
empörende Missbräuche und Grausamkeiten für immer abgeschafft würden. Hoch- 
gestellte Christen, wie der berühmte Kirchengeschichtsschreiber Neander in 
Berlin, der wiener Domprediger Veith, Lord Howden in London u. a. m. be¬ 
theuerten, dass die gegen die Juden erhobene Beschuldigung völlig grund¬ 
los sei. 
Mit Empfehlungsschreiben von der Königin Victoria versehen, trat Moses 
Montefiore, begleitet von seiner edlen Gattin, Judith, und seinem sprachgewandten 
Secretär, Dr. Loewe, seine Mission an. In Frankreich gesellten sich zu ihm 
Cremieux und der ausgezeichnete Orientalist Sal. Munk; am 4. August landeten 
sie in Kairo. Bald nach ihrer Ankunft erhielten sie eine Audienz bei Mehemed 
Ali; es vergingen jedoch mehrere Wochen, ehe ihnen eine entscheidende Antwort 
ertheilt wurde. Am 6. September musste endlich Scherif Pascha die Gefangenen 
freigeben; sie waren fast alle infolge der Folterqualen verstümmelt. Um die Juden 
im türkischen Reich vor ähnlichen Verfolgungen zu sichern, begab sich Montefiore 
nach Konstantinopel und bewirkte vom Sultan einen Ferman, der die Beschuldigung, 
dass die Juden Menschenblut gebrauchten, für eine böswillige Verleumdung er’ 
klärte und zugleich verhiess, dass „fernerhin die jüdische Nation dieselben Rechte 
und Freiheiten gemessen solle, welche allen ändern Nationen im türkischen Reich 
bewilligt sind.“ 
Die Nachricht von den glücklichen Erfolgen der jüdischen Vertreter im 
Orient rief einen ungeheuern Enthusiasmus hervor; auf ihrer Rückreise wurden 
sie überall im Triumph empfangen. 
Cremieux und Montefiore hörten auch später nicht auf, für ihre Glaubens¬ 
genossen thätig zu sein. Montefiore, der in seinem Wappen mit hebräischen 
Lettern das Wort „ Jeruschalajim“ führt, machte sich in seiner Frömmigkeit die 
Wohlfahrt der Juden in Palästina zur Lebensaufgabe. 1875 pilgerte er als
	        
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