Full text: Thüringer Sagen und Nibelungensage (Teil 1)

— IX — 
neuem daran, wie schön und bedeutungsreich das Bindeglied zwischen 
ihnen ist. 
Die Gestalten unseres Sagenkreises sind auch gar nicht geeignet, 
einen thüringischen Sondergeist entstehen zu lassen, wie dies z. B. mit 
bett Sagen von Herzog Ernst für Schwaben und mit betten von Witte¬ 
kind, von Heinrich dem Löwen für die Länder des ehemaligen Herzog¬ 
tums Sachsen möglich ist. Bei genauerer Beschäftigung mit jenen Er¬ 
zählungen kann man sich überzeugen, wie ihre Träger typische Gestalten 
des Mittelalters sind. Dies gilt von den Landgrafen und in noch 
höherem Maße vielleicht von den Wartburg-Sängern und von der 
heiligen Elisabeth in ihrer glaubensinnigen, einfältigen Frömmigkeit. 
Auch werben Begebenheiten erzählt, welche bamals überall in Deutsch- 
lanb sich zugetragen haben. Das Eigentum ist noch nicht so gesichert 
wie heutzutage, Übergriffe bleiben straflos. Mit Gewalt imb List wird 
eine Burg gebaut. Ein Mächtiger büßt seine Sünden mit Erbauung 
eines Klosters. Ein Fürst straft in mittelalterlich eigentümlicher Weise 
seine aufrührerischen Ritter; eine Verlobung zwischen Kindern, eine 
Hungersnot mit ihren schrecklichen Folgen; ein herumziehender Krämer; 
ein Kreuzzug: das alles läßt sich nicht auf Thüringen beschränken. 
Der Partikularismus freilich will nur die Landessagen pflegen, 
wohl wissend, welche Kräfte denselben innewohnett. Nun würde es eine 
Verkennung bes großen Wertes ber individuellen Verschiedenheiten inner¬ 
halb eines Volksganzen sein, wollte man die landschaftlichen Sondersagen 
von Grund aus beseitigen Nein, man muß einwurzeln in die Be¬ 
sonderheit seines Volksstammes, sie verleiht ein bestimmtes Gepräge, 
eine wertvolle Festigkeit. Daß so viel Oberflächlichkeit und fo wenig 
Pietät in unserer Zeit gefunden wird, hängt gewiß damit zusammen, 
baß bie Schule es versäumt, bie Jugenb sich einleben zu lassen in bas 
Volksgemüt, in bie Volksseele, bie sich in bett heimatlichen Sagen 
wiederspiegelt. Ihre Pflege ist demnach eine hohe Aufgabe des Lehrers; 
nur können sie nicht, wie man wohl gemeint hat, in ihrer Verschieden¬ 
heit für jede Landschaft unseres Vaterlandes die geeignete Vorstufe des 
Geschichtsunterrichts sein. Ihr gewachsener Boden ist bie Heimatskunde; 
die allgemein deutsche Geschichte aber bedarf auch einer allgemein 
deutschen Einleitung. 
Soll unser Volk immer mehr sich zusammenschließen, so müssen sich 
noch mehr gemeinsame Beziehungspunkte herausbilden; ich erinnere an 
die Griechen. Die Konfession kann — man glaubt zum Segen für 
unser religiöses Leben — hierher nicht gerechnet werden, barum sind 
um so sorgfältiger gemeinsame Beziehungen anberer Art zu pflegen unb 
aufzusuchen. Noch vor kurzem ist bie Wartburg von einem Süd¬ 
deutschen „ein geistiger Höhepunkt für Deutschland" genannt worden. 
Es könnte nun natürlicher erscheinen, die Nibelungen den Thüringer 
Sagen vorausgehen zu lassen. Eine genaue Vergleichung belehrt uns 
eines anderen. 
Die Thüringer Sagen liegen dem Kinde psychologisch näher; denn 
die mit ihnen gegebenen Zustände und Verhältnisse können wohl von
	        
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