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neuem daran, wie schön und bedeutungsreich das Bindeglied zwischen
ihnen ist.
Die Gestalten unseres Sagenkreises sind auch gar nicht geeignet,
einen thüringischen Sondergeist entstehen zu lassen, wie dies z. B. mit
bett Sagen von Herzog Ernst für Schwaben und mit betten von Witte¬
kind, von Heinrich dem Löwen für die Länder des ehemaligen Herzog¬
tums Sachsen möglich ist. Bei genauerer Beschäftigung mit jenen Er¬
zählungen kann man sich überzeugen, wie ihre Träger typische Gestalten
des Mittelalters sind. Dies gilt von den Landgrafen und in noch
höherem Maße vielleicht von den Wartburg-Sängern und von der
heiligen Elisabeth in ihrer glaubensinnigen, einfältigen Frömmigkeit.
Auch werben Begebenheiten erzählt, welche bamals überall in Deutsch-
lanb sich zugetragen haben. Das Eigentum ist noch nicht so gesichert
wie heutzutage, Übergriffe bleiben straflos. Mit Gewalt imb List wird
eine Burg gebaut. Ein Mächtiger büßt seine Sünden mit Erbauung
eines Klosters. Ein Fürst straft in mittelalterlich eigentümlicher Weise
seine aufrührerischen Ritter; eine Verlobung zwischen Kindern, eine
Hungersnot mit ihren schrecklichen Folgen; ein herumziehender Krämer;
ein Kreuzzug: das alles läßt sich nicht auf Thüringen beschränken.
Der Partikularismus freilich will nur die Landessagen pflegen,
wohl wissend, welche Kräfte denselben innewohnett. Nun würde es eine
Verkennung bes großen Wertes ber individuellen Verschiedenheiten inner¬
halb eines Volksganzen sein, wollte man die landschaftlichen Sondersagen
von Grund aus beseitigen Nein, man muß einwurzeln in die Be¬
sonderheit seines Volksstammes, sie verleiht ein bestimmtes Gepräge,
eine wertvolle Festigkeit. Daß so viel Oberflächlichkeit und fo wenig
Pietät in unserer Zeit gefunden wird, hängt gewiß damit zusammen,
baß bie Schule es versäumt, bie Jugenb sich einleben zu lassen in bas
Volksgemüt, in bie Volksseele, bie sich in bett heimatlichen Sagen
wiederspiegelt. Ihre Pflege ist demnach eine hohe Aufgabe des Lehrers;
nur können sie nicht, wie man wohl gemeint hat, in ihrer Verschieden¬
heit für jede Landschaft unseres Vaterlandes die geeignete Vorstufe des
Geschichtsunterrichts sein. Ihr gewachsener Boden ist bie Heimatskunde;
die allgemein deutsche Geschichte aber bedarf auch einer allgemein
deutschen Einleitung.
Soll unser Volk immer mehr sich zusammenschließen, so müssen sich
noch mehr gemeinsame Beziehungspunkte herausbilden; ich erinnere an
die Griechen. Die Konfession kann — man glaubt zum Segen für
unser religiöses Leben — hierher nicht gerechnet werden, barum sind
um so sorgfältiger gemeinsame Beziehungen anberer Art zu pflegen unb
aufzusuchen. Noch vor kurzem ist bie Wartburg von einem Süd¬
deutschen „ein geistiger Höhepunkt für Deutschland" genannt worden.
Es könnte nun natürlicher erscheinen, die Nibelungen den Thüringer
Sagen vorausgehen zu lassen. Eine genaue Vergleichung belehrt uns
eines anderen.
Die Thüringer Sagen liegen dem Kinde psychologisch näher; denn
die mit ihnen gegebenen Zustände und Verhältnisse können wohl von