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ben Titel eines Deutschen Kaisers anzunehmen. Der König erfüllte den Wunsch,
18. und am 18. Januar 1871 wurde das vor mehr als 60 Jahren zusammengesunkene
1871 Deutsche Reich neu errichtet. Die Feier, in der König Wilhelm zum Deutschen
Kaiser ausgerufen ward, faud mährend noch vor Paris die Kanonen donnerten
— im Schlosse zu Versailles statt. In einem großen Saale war ein Altar her¬
gerichtet worden. Um V/a Uhr erschien der König mit dem Kronprinzen, vielen
Fürsten, Ministern und Generalen und stellte sich mit ihnen vor dem Altar auf.
Ein kurzer Gottesdienst wurde abgehalten. Dann trat der König vor und erklärte
mit lauter Stimme vor den versammelten Offizieren und den mit dem Eisernen
Kreuze geschmückten Kriegern, daß er die ihm von den Fürsten und dem Volke dar¬
gebotene Kaiserkrone annehme. Gleich darauf verlas Graf Bismarck die Ernennung
König Wilhelms zum Deutschen Kaiser. Zum Schlüsse trat der Großherzoq
von Baden vor und rief: „Seine Majestät der Kaiser Wilhelm lebe hoch!" Die
ganze Versammlung stimmte dreimal begeistert in diesen Ruf ein, und die Musik
spielte: „Heil dir im Siegerkranz."
e. 2taifcr Wilhelms I. Persönlichkeit. Tod.
1. Leutseligkeit. Der Kaiser Wilhelm war gegen jedermann freundlich
und wohlwollend. Anderen Freude zu machen war seine Lust. Besonders liebe¬
voll war er auch gegen Kinder.
Einmal ging Kaiser Wilhelm in Ems spazieren. Da kam plötzlich ein kleiner Knabe
auf ihn zugelaufen, umklammerte seine Kniee und ries: „Bist du wirklich der Kaiser Wil¬
helm?" „Ja, ich denke, kleiner Mann," lautete die Antwort; „und wie heißt denn du
und was willst du werden?" „Ich heiße auch Wilhelm, und Soldat will ich werden,"
rufl der Kleine freudestrahlend, „aber weißt du, einer von denen mit den roten Auf¬
schlägen und den weißen Federbüschen, damit ich meine Uniform gebrauchen kann." „Gott
segne dich, mein Junge," erwiderte der Kaiser, „und wenn du einmal groß bist, dann sag
meinem Sohne Fritz, du wolltest unter die Soldaten mit den roten Aufschlägen und den
weißen Federbüschen, der alte Kaiser Wilhelm habe dir's erlaubt." Erfreut springt das
Büblein davon, um der Mama zu berichten, was der Kaiser ihm gesagt hat.
2. Molmung. Mildtätigkeit. Wenn der Kaiser in Berlin weilte, so
bewohnte er nicht das prächtige, königliche Schloß, sondern ein einfaches Palais
am Eingänge „Unter den Linden", dem Denkmale Friedrichs d. Gr. gegenüber.
Das letzte Fenster links in der Front ist das „historische Eckfenster", nach dem
die Fremden in Berlin oft stundenlang hinüberschauten, um ihren geliebten Kaiser
zu sehen, wenn er vom Arbeitstische aufstand und einmal ans Fenster trat, uni
sich zu erholen. So oft sich der Kaiser zeigte, brausten ihm Jubelrufe entgegen,
und „manche Mutter hob ihr Kind auf, daß es sähe des alten Kaisers freund¬
liches Gesicht". Nicht selten sah man auch in der Menge Bittsteller, die sich
hier dem Kaiser bemerkbar zu machen suchten.
^ So stand hier einmal ein alter Bergmann aus dem Mansseldschen. Er hatte
30 Jahre wacker gearbeitet, aber für sein Alter nichts zurücklegen können. Da gedachte
er seines Kaisers, von dessen Mildtätigkeit er oft gehört hatte. Mit einem Brieflein in
der Tasche fuhr er nach Berlin. Dort stellte er sich vor dem Denkmale des „alten Fritz"
auf und hielt das Bittschreiben in die Höhe, damit es der Kaiser von seinem Eckfenster
aus sehen sollte. Als aber Wagen auf Wagen vorfuhr und Generale kamen und gingen,
da verlor er fast den Mut; denn niemand schien sich um ihn zu kümmern. Aber dennoch
harrte er ans. Wenn die rechte Hand erlahmt war, hielt er den Brief mit der linken
empor, das Auge unverdrossen auf das Eckfenster gerichtet. Endlich bemerkte ihn der