II. Jdie Rüftzeit.
l. Bis zum Auftreten des Täufers.
Von Jesu Leben lassen die Quellen, unter denen in der Vorderreihe die
drei ersten Evangelien stehen, nur einen ganz kleinen Ausschnitt überschauen,
die kurze Zeit seiner öffentlichen Wirksamkeit, der sich nach dem Tode des
Heilands die Erinnerung naturgemäß zunächst zuwandte. Ueber den äußeren
und innern Vorgängen, die das Jugendleben ausgefüllt, ruht tiefes Schweigen.
Was uns bei Mt. und Le. über die Vorgänge bei seiner Geburt berichtet wird,
gehört dem schimmernden Kranze an, den dichtender Gemeindeglaube Jesus
um das Haupt gewunden hat. Es ist geistige Wirklichkeit, die es mit Geist
aufzunehmen und mit andachtsvoller Freude zu verehren gilt*
Gegenüber aller Widerrede der Evv. Mt. und Le., welche Jesus im Sinne
alter prophetischer Weissagung in der Davidstadt Bethlehem geboren werden
lassen, hat als sein Geburtsort das freundliche Bergstädtchen Nazareth im
Hügellande des südlichen Galiläa zu gelten, wie aus den vielfachen Belegen
unserer Quellen mit Gewißheit hervorgeht (Me. 124; 1461; Mt. 2110; Lec.
418; Joh. 15; Apg. 243 u. a.). Aus seinem späteren Leben und Lehren
lassen sich die äußeren Bedingungen erschließen, unter deren mitbestim⸗
mender Einwirkung seine Persönlichkeit heranwuchs und reifte: das vom Zen—
trum des jüdischen Lebens abgelegene Land Galiläa mit seiner gemischten
Bevölkerung, seinem starken heidnischen Durchgangsverkehr, so daß das Judentum
hier vom jüdischen Nationaldünkel und von der pharisäischen Vergötterung des
Gesetzes gewiß freier war als im heidenreinen Judäa; das kinderreiche Eltern—
haus (Me. 63; Mt. 18 3326), in dem der Knabe die ersten Eindrücke einer
schlichten Herzensfrömmigkeit empfing; das Bauhandwerk, das Vater und Sohn
wohl auf gemeinsamen Wanderungen auch über die Grenzen der engeren Heimat
hinausführte; der Verkehr mit den ländlichen Bewohnern des Fleckens, deren
mannigfaltige Sorgen und Geschäfte sich dem religiös gerichteten Sinn zu
Abbildern von religiösen und sittlichen Vorgängen gestalten; die Majestät und
* Schon hinsichtlich des Geburtsjahres gehen die Angaben auseinander. Nach
Lc. 323 war Jesus bei seinem Hervortreten ungefähr 30 Jahre alt, dieses aber rückt zeitlich
nahe an die Wirksamkeit Johannes des Täufers, die in das 15. Regierungsjahr des Kaisers
Tiberius (14537 n. Chr.), d. i. in das Jahr 28,29 unserer Zeitrechnuug fällt (Le. 31).
Da Le. nur eine ungefähre Altersbestimmung bietet (vgl. auch Joh. 85), so läßt sich das
Geburtsjahr bis in die letzten Regiernngsjahre des Königs Herodes zurück ansetzen, was
auch wohl der allgemeinen Ueberlieferung entspricht (Ve— 15;3 Mt. 2u ff. Die weitere
Le.⸗Nachricht (21-27), wonach Jesus zur Zeit der Einschätzung unter dem syrischen Statt⸗
halter Quirinius T n. Chr. geboren wurde, leidet zu sehr an inneren Unwahrscheinlichteiten,
als daß ihr gegenüber dem Gewichte der angeführten Angaben Glauben gegeben werden
könnte. Ueber den Tag der Geburt läßt sich Geschichtliches schon gar nicht ausmachen,
da die kirchliche Fixierung dieses Tages erst aus dem 4. Jahrhundert stammt.