Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten

Prosa. — Betrachtende Abhandlung. 
blieben. Einst kaufte ein armer Sünder, der auch einmal den Mund gern zu 
etwas anderm, als „ich passe“, aufthun wollte, einem berühmten Erzähler eine 
Geschichte ab, mit dem Beding, daß der Verkäufer sie nie wieder erzählen sollte 
Das gieng so lange gut, als beide sich in einer Gesellschaft trafen, wo der Ein⸗ 
käufer den gekauften Witz äußerst erbärmlich machte, und der alte Erzähler 
aufsprang und sagte: „Hier haben Sie Ihr Geld wieder, lassen Sie mir meine 
Geschichte!“ 
Rechtschreiben. Bürger klagt noch, daß „aus der ganzen Literän 
geschichte kein aufgeklürtes schreibendes Volk bekannt sei, welches im ganzen s9 
schlecht mit seiner Sprache umgegangen, welches so nachlässig so unbell mmert 
um Richtigkeit, Reinheit und Schönheit, ja — welches so liederlich geschrieben 
habe, als bisher unser deutsches Volk“ Was ist es anders, als die Wieder— 
holung eines alten Vorwurfs, den uns schon Otfried im 9. Ihdt. machte? 
„Diese Sprache wird für bäuerisch gehalten, und selbst die, welche sie reden, 
haben sie zu keiner Zeit weder durch Schrift, noch durch Kunst vollkommen zu 
machen gesucht, indem sie weder die Geschichte ihrer Voreltern, wie es viele 
andre Nationen thun, schriftlich verzeichnen, noch ihre Thaten und Leben erheben. 
Wenn sie auch dieses thun, welches doch selten geschieht, so brauchen sie vielmehr 
die Sprachen anderer Völker, d. i. der Lateiner oder Griechen. Sie hüten sich 
in diesen schlecht zu schreiben; sie getrauen sich nicht, in den ersteren duͤrch einen 
Buchstaben gegen die Kunst zu verfehlen, und in ihrer eigenen geschieht es bei 
jedem Worte. Eine wunderliche Sache, daß so große Männer alles dieses frem⸗ 
den Sprachen zu Ehren thun und die eigene nicht schreiben können!“ Billig 
sollte, wer ans Volk reden und schreiben muß, sich vorher die Gabe der Volls 
faßlichkeit erwerben. Es sollte jeder Staatsbürger seine Meinung derstandlich 
vortragen lernen in mündlicher Rede und Schrift. Wer die Muttersprache 
gründlich gelernt hat, findet sich leichter in allen Sprachen zurecht; zu den Bůchern 
der Welt steht der Zugang ihm offen. 
Gesang einer lebendigen Sprache übertönt das bloße Lautwerden 
einer nur lebenden. Dichtungskraft und schöne Singbarkeit schmücken die 
unsere mit ursprünglicher Schönheit. Der zu bescheidene Deutsche laubt 
sich nur selbst sein Gutes nicht, traut kaum sogar der That. Die Aussage 
eines Fremden, den ein deutscher Mann abgehört hat, wird hoffentlich Selbst 
vertrauen und Selbstzuversicht stärken. 
Schon vor einigen Jahren wunderte sich ein wälscher Tonkünstler über das 
Vorurtheil der Deusschen gegen die Geschicklichkeit ihrer Sprache zum hohen 
lyrischen Gesang und zur musikalischen Sprechkunst. Er behauptete, der Vorzug 
der wälschen Sprache vor der unsrigen in Absicht auf die Singbarkeit sei lang 
nicht so groß, als man sich einzübilden pflege. Denn damit eine Sprache 
musikalisch sei, käme es weniger darauf an, daß sie sich wegen häufiger 
A, E und O leicht aussprechen und singen lasse, als darauf, daß fie alle Arten 
von Bildern, Bewegungen, Empfindungen und Leidenschaften durch Worte (die 
dem Ohre etwas mit dem Gegenstande Uebereinstimmendes eindrücken) zu be 
zeichnen geschickt sei. Und dies äls einen unleugbaren Grund vorausgeseht, würde 
bei näherer Vergleichung schwer fallen, zu entscheiden, welche von beiden 
Sprachen zur dramatischen Mufik die tauglichste wäre. Die unsrige besitze eine 
Menge nachahmender Töne, eine Menge don sanften und einen noch größeren 
Reichthum an schallenden, prächtigen, den majestätischen und furchtbaren Auftrit⸗ 
ten in der Natur und den stärkeren Bewegungen der Seele angemessenen Wor 
ten und Ausdrücken; so daß ein verständiger Tonsetzer das, was sie vielleicht
	        
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