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lands innig vereinigt; „ein einig Volk von Brüdern" wollten sie für alle
Zukunft sein und bleiben. Noch ehe Paris in deutsche Hände gefallen war,
sandten alle süddeutschen Fürsten Abgesandte in das Hauptquartier des
Königs von Preußen nach Versailles mit der Bitte, den Norddeutschen
Bund durch Aufnahme der süddeutschen Staaten zu einem
Deutschen Reiche zu erweitern. Das gesamte Volk und seine Ver¬
treter im Reichstage stimmten freudig ein.
2. Der neue deutsche Kaiser. — Nun sollte auch die Kais er -
würde wieder aufleben. So beschlossen es einmütig die deutschen Fürsten
und Freien Städte, als König Ludwig II. vonBayern sie aufforderte,
den König Wilhelm von Preußen zur Übernahme dieser Würde ein¬
zuladen. Am 18. Januar 1873 , dem Tage, da vor 170 Jahren das
preußische Königtum gestiftet wurde, fand die feierliche Errichtung
des neuen deutschen Kaiserreiches statt. Im Königsschlosse zu
Versailles, von wo aus einst Ludwig XIV. dem Deutschen Reiche Schimpf
angethan, hatten sich deutsche Fürsten, Heerführer, Staatsmänner und er¬
lesene Krieger mit ihren Fahnen versammelt. Da tritt der greife König
Wilhelm ein. Ein festlicher Gottesdienst beginnt. Ihn durchklingt das Wort:
„Herr, der König freuet sich in deiner Kraft" — „Du setzest eine goldene
Krone auf sein Haupt" (Ps. 21). Der Lobgesang ist verklungen. Da
tritt der König auf die Erhöhung, wo 56 ruhmvoll geführte Fahnen der
deutschen Armee ihn begrüßen. Laut und feierlich erklärt er vor allen
Zeugen, daß er die deutsche Kaiserwürde übernehme. Er dankt den
Fürsten, daß sie freiwillig der Kraft des Vaterlandes zuliebe einen Teil
ihrer Fürstenmacht ihm übertragen haben. Dann verliest der Kanzler Bis¬
marck des Kaisers Ansprache an das deutsche Volk. Mit lauter
Stimme aber antwortet der Großherzog von Baden: „Hoch lebe Seine
Majestät der Kaiser Wilhelm!" und die ganze Versammlung stimmt
begeistert ein. Brausend erklingt es im Saale: „Heil dir im Sieger¬
kranz!" und zum erstenmal: „Heil, Kaiser, dir!" In tiefer Bewegung
huldigen alle dem Kaiser. Dann schreitet er unter rauschender Feldmusik die
Front der mit dem Eisenkreuz geschmückten Mannschaften entlang und ver¬
läßt den Saal. Eine weltgeschichtliche Stunde! Der 18. Januar ist der
Geburtstag des neuen Deutschen Reiches unter dem Scepter der Hohen-
zollern! x
Des Kaisers Ansprache „An das deutsche Volk" aber lautet: „Wir Wilhelm,
von Gottes Gnaden König von Preußen rc. rc. Nachdem die deutschen Fürsten und
Freien Städte den einmütigen Ruf an Uns gerichtet haben, mit Herstellung
des Deutschen Reiches die seit mehr denn sechzig Jahren ruhende Kaisernmrde zu