Erste sozialpolitische Kundgebung Bismarcks
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III. Zur Sozialpolitik.
Schreiben virmarckr vom \T. Nov. \ST\ an den handelsminister
Grasen Itzenplitz über positive Maßregeln zur sozialen Frage?
Die neuere sozialistische Doktrin, insoweit sie namentlich mit der
sogenannten Internationalen in Verbindung steht, rechnet über¬
haupt mit den jetzigen Staaten weder in ihrer nationalen noch in ihrer
prinzipiellen Bedeutung. Sie weist deshalb auch jede Unterstützung und
Kooperation der bestehenden Regierungen prinzipiell zurück und stellt
an die Spitze ihres Programms die Forderung der Umformung der be¬
stehenden Staaten in den sozialistischen Volksstaat.
Line (Einmischung der bestehenden Staaten in die sozialistische Be¬
wegung ist deshalb so wenig gleichbedeutend mit dem Siege der soziali¬
stischen Doktrin, daß mir vielmehr die Hftion der gegenwärtig herrschen¬
den Staatsgewalt als das einzige Mittel erscheint, der sozialistischen
Bewegung in ihrer gegenwärtigen Verirrung Halt zu gebieten und die¬
selbe insbesondere dadurch in heilsamere Wege zu leiten, daß man rea¬
lisiert, was in den sozialistischen Forderungen als berechtigt erscheint
und in dem Rahmen der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsord¬
nung verwirklicht werden kann?
1 Pofchinger, Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck II, S. 164
bis 167.
* 3n diesem bedeutsamen Satze liegt der Kettn und Grundgedanke unserer
ganzen späteren Gesetzgebung zum Schutze der wirtschaftlich Schwachen. Fürst
Bismarck stand mit seiner Auffassung im Staatsministerium vereinzelt da, erhielt
aber bald von außen Unterstützung. Hm 6. (Oktober des Jahres 1872 hatte sich
nämlich in Eisenach auf den Ruf mehrerer Lehrer der Staatswissenschaften
eine freie Versammlung von einigen hundert Männern aus allen bürgerlichen
Kreisen und aus allen politischen Parteien (öer heutige „verein für Sozial¬
politik" — die sog. Kathedersozialisten) zusammengefunden, um die wich¬
tigen Fragen, welche die Verbesserung unserer volkswirtschaftlichen Verhältnisse
betreffen, gemeinsam zu besprechen. 3n dem einleitenden vortrage, welchen
einer der Urheber der Versammlung (Gustav Schmoller, Halle) hielt, äußerte
er sich über die Auffassungen derer, welche die Versammlung berufen, wie
folgt: „Wir geben zu, daß die Aufgaben des Staates, je nach den Kultur¬
verhältnissen, bald engere, bald weitere sind; niemals aber betrachten wir
ihn als ein notwendiges, möglichst zu beschränkendes Übel; immer ist uns der
Staat das großartigste sittliche Institut zur Erziehung des Menschengeschlechts.
Aufrichtig dem konstitutionellen System ergeben, wollen wir doch nicht eine
wechselnde Klassenherrschaft der verschiedenen einander bekämpfenden wirt¬
schaftlichen Klassen,' wir wollen eine starke Staatsgewalt, welche, über den
egoistischen Klasseninteressen stehend, die Gesetze gebe und die Verwaltung
mit gerechter Hand leite, die Schwachen schütze, die unteren Klassen hebe.
Erfüllt von der Notwendigkeit der Reform, predigen wir doch keinen Um¬
sturz aller bestehenden Verhältnisse; wir verwahren uns gegen alle sozia¬
listischen versuche. Wir erkennen nach allen Seiten das Bestehende, die be¬
stehende volkswirtschaftliche Gesetzgebung, die bestehenden Formen der pro-