Full text: Reallexikon des classischen Alterthums für Gymnasien

Ager publicus. 
pfangen hatten. Zwar hatten Die Patricier keines¬ 
wegs das ausschließliche Recht den ager publicus 
zu benutzen, allein factisch befanden sie sich in dem 
alleinigen Besitz desselben, einmal weil sie ursprüng¬ 
lich vor der Gesetzgebung des Serv. Tullius allem 
den populus gebildet hatten,, anderseits wegen 
ihres Reichthums, welcher sie besonders zur Be¬ 
bauung großer Strecken befähigte, auch wol wegen 
ihrer Verbindungen mit den Feldherren und Magi¬ 
straten, welche ihnen den ager publicus einräum¬ 
ten oder stillschweigend überließen, woraus sie 
diese possessiones von ihren Sclaven bebauen lie¬ 
ßen ober in kleinen Parcellen ihren Clienten als 
Pächtern überließen. Ja sie begnügten sich nicht 
blos mit biesen Länbereien, sonbern sie bemühten 
sich auch, bie in ber Nähe gelegenen Felber ber 
armen Plebejer an sich zu bringen, was ihnen 
vermittelst ber harten Schulgesetze meistens gelang, 
s. Plebs u. Nexum. In bieser traurigen Sage 
drangen bie Plebejer Jahrhunberte hinburch ans 
Siffignationen, unb ihre Parteihäupter ermübeten 
nicht, immer wicber mit Gesetzvorschlägen (leges 
agrariae) hervorzutreten, welche allemal große 
Aufregung veranlaßten, inbem bie patricischen Be¬ 
sitzer alles in Bewegung setzten, um nicht ihre 
Reichthümer unb ihr angemaßtes Vorrecht zu 
verlieren. In ben Hänben ehrgeiziger Wühler 
bilbeten bie Ackergesetze eine furchtbare Waffe. Liv. 
2, 52. 6, 11. Unter biesem Namen werben alle 
Gesetze begriffen, welche Assignationen verfügen, 
fowol an Colonieen, als an einzelne Bürger (ohne 
Kolonisation). Sehr zahlreich waren bie leges, 
welche bie Ausführung vou Colonieen bestimmten, 
z. B. lex Acilia, Aelia, Appuleia u. s. w., 
vgl. KlriQov%ici, 4. Da aber biese Maßregel im¬ 
mer blos als einzeln stehenbe Erscheinung zu be¬ 
trachten ist, unb burch biefelbe bie Plebejer stets 
nur vorübergehenb besriebigt würben, so sinb bie- 
jenigen leges agrariae viel wichtiger, welche 
burchgreifenbe Vertheilung unb Umwanbluug bes 
Besitzstanbes forberten. Die erste berartige war 
bie lex Cassia, von betn volksfrennblichen Con- 
ful Sp. Cassius Viscellinus 268 a. u. 486 v. C. 
versaßt unb aus neue Affignation bes jüngst er¬ 
oberten ober auch schon lange occupirten ager 
publicus gerichtet. Liv. 2, 41. Dion. Hai. 8, 69 ff. 
Die Patricier halfen sich ans ber Noth burch ein 
SC., welches 10 Männer anorbitete, um ben ager 
publicus von bem privatus zu scheiben unb ben 
ersten fobann theils zu assigniren, theils gegen 
eine Abgabe als possessiones zu überlassen. Dion. 
Hai. 8, 76. Daburch aber wollten die Patricier 
nur Zeit gewinnen, denn sie wußten durch alle 
möglichen Mittel die Ausführung des 86. zu 
hintertreiben. Liv. 2, 43. 44. 48. 52. 54. 61. 63. 
Auch gelang es ihnen, eine ganze Reihe von andern 
Gesetzvorschlägen zu nichte zu machen, z. B. des L. 
Jcilius, des Poetelius u. a., Liv. 4, 12. 36. 
43. 44., desgleichen die lex Mecilia Metilia, 
Liv. 4, 18., lex Sestia, Liv. 4. 49. 51., lex 
Maenia, Liv. 4, 53. Nur ein paar Male, bei 
besonberen Veranlassungen, würben Aecker ver¬ 
theilt, Liv. 5, 30. 6, 5. 6. 11. Einen neuen Weg 
schlug ber große plebejische Legislator C. Lieinius 
Stolo ein, 376—367 v. C., s. Leges Liciniae. 
Sein Ackergesetz bestimmte: 1) Niemanb solle mehr 
als 500 iugera bes ager publicus in Besitz haben, 
2) begleichen nicht mehr als 100 Stück großes 
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unb 500 Stück kleines Vieh auf ber Gemein- 
weibe halten; 3) wer bagegen sünbige, unterliege 
einer Gelbstrase (multa), Liv. 6, 35. 36. App. 
b. c. 1, 8. Varro r. r. 1, 2. Gell. 7, 3. Dar¬ 
auf trat, bis auf bie Gracchen, große Ruhe in 
den Ackerbewegungen ein, theils weil bie Plebs 
burch bie großen Kriege zu sehr in Anspruch ge¬ 
nommen war, theils weil viele Arme in ben zahl¬ 
reichen Colonieen Versorgung gefunben hatten. 
Nur bie lex Flaminia de agro Gallico 
viritim clividundo wirb 522 a. u. 232 v. C. 
erwähnt, Val. Max. 5, 4, 5. Nach Beenbigung 
ber großen Kriege traten bie alten Uebel wieber 
schroff hervor, unb ber Gegensatz zwischen Armen 
unb Reichen würbe immer schlimmer. Der kleine 
Grunbbesitzer hatte im zweiten finnischen Kriege 
sehr gelitten, Viele hatten ben Ackerbau ganz aus¬ 
gegeben ober waren bemfelbeu völlig entfrembet, 
unb einen eigentlichen Mittelstanb gab es nicht 
mehr. Deshalb beschlossen bie beibett Gracchen ben 
Ackerbau zu heben unb bie Noth ber Armen zu 
linbern, was aber nicht ohne gewaltsame Reformen 
unb Benachteiligung ber Besitzenben geschehen 
konnte und deshalb zu heißen Kämpfen führte. 
Zuerst gab Tib. Gracchus ein Ackergesetz, in wel¬ 
chem er das Licinische zu Grunde legte, und be¬ 
stimmte, wer mehr als 500 iugera habe (oder 
höchstens 1000, im Falle, daß er zwei Söhne hätte, 
so daß für jeden 250 iugera gerechnet wurden), 
solle das Mehr herausgeben, wofür er Entschä¬ 
digung bekäme, und die abgetretenen Grundstücke 
sollten unter die Armen vertheilt werden, zwar 
als fester, jedoch unverkäuflicher Besitz, aber gegen 
eine Abgabe an bett Staat, unb Triumviri hätten 
alljährlich bie nöthigen Untersuchungen zu veran¬ 
stalten. Liv. ep. 58. App. b. c. 1, 9. 11. Man 
begann bas Gesetz zu vollziehen, aber bie Sache 
gerieth sehr balb in Stocken, weshalb C. Setn- 
pronius Gracchus bas Gesetz seines Brubers wie¬ 
derherstellte, 123 v. C. Liv. ep. 60. Veil. 2, 6. 
Um es abermals zu hintertreiben, gewann bie 
Senatspartei ben unruhigen Tribun M. Livius 
Drusus, welcher in seiner lex agraria bie Frei¬ 
gebigkeit des Gracchus bei weitem überbot und 
dadurch demselben die Volksgunst entzog. App. b. 
c. 1, 23. Flut. C. Gracch. 9. Gracchus wurde 
gestürzt und das Gesetz des Livins, welches auch 
nicht ernstlich gemeint sein konnte, kam gar nicht 
zur Ausführung. Dagegen erschienen mehrere Ge¬ 
setze von reactionärer Tendenz, unter denen die 
vielbesprochene und bestrittene lex Tboria die 
wichtigste ist (s. App. b. c. 1, 27. Cic. Brut. 36., 
vgl. Mommsen, G. I. L. I. p. 75—106.). Diese 
letztere bestätigte die früheren possessiones und 
machte sie zu festem abgabenfreiem Privateigen¬ 
thum , so daß bie Reichen nun nichts mehr zu 
fürchten hatten. Von Seiten der Volkspartei trat 
650 a. u. 104 v. C. L. Marcius Philippus mit 
einem neuen Gefetzvorschlage auf, aber ohne Erfolg, 
Cic. .off. 2, 21. Glücklicher war der demagogische 
L. Appuleius Saturninus 654 a. u. 100 v. C., 
dessen lex mehrere neue Assignationen an die Sol¬ 
daten des Marius und Colonifirnttg anordnete, 
App. b. c. 1, 29. Aur. Vict. 73., aber bald wieder 
aufgehoben wurde. Dasselbe Schicksal hatten die 
lex Titia und lex Li via (91), welche abermals 
durch Aussicht auf das römische Bürgerrecht die 
Italiker zur Abtretung der Staatslänbereien zu
	        
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