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„O, wäre ich doch auch groß genug, um über das Meer hinfahren
zu können! Wie ist denn eigentlich dieses Meer, und wie sieht es aus?“
„Ja, das zu erklären, ist zu weitläufig,“ sagte der Storch, und
damit ging er fort.
„Freue dich deiner Jugend!““ sagten die Sonnenstrahlen, „freue
dich deines frischen Wachstums, des jungen Lebens, das in dir ist!“
Und der Wind küßte den Baum, und der Tau weinte Tränen
über ihn; aber das verstand der Tannenbaum nicht.
Wenn es gegen die Weihnachtszeit ging, wurden ganz junge
Bäume gefällt, Bäume, die oft nicht einmal so groß oder gleichen
Alters mit diesem Tannenbaume waren, der weder Ruhe noch Rast
hatte, sondern immer davon wollte. Diese jungen Bäume, und es
waren gerade die allerschönsten, behielten immer alle ihre Zweige; sie
wurden auf Wagen gelegt, und Pferde zogen sie fort, aus dem Walde
hinaus.
„Wohin sollen die?“ fragte der Tannenbaum. „Sie sind nicht
größer als ich; vielmehr war einer da, der war viel kleiner. Weshalb
behalten sie alle ihre Zweige? Wo fahren sie hin?“
„Das wissen wir, das wissen wir,“ zwitscherten die Sperlinge.
„Unten in der Stadt haben wir in die Fenster gesehen. Wir wissen,
wohin sie fahren. O, sie gelangen zur größten Pracht und Herrlichkeit,
die man nur denken kann. Wir haben in die Fenster gesehen und
haben wahrgenommen, daß sie mitten in der warmen Stube auf—
gepflanzt und mit den schönsten Sachen, vergoldeten Äpfeln, Honig—
kuchen, Spielzeug und vielen Hunderten von Lichten geschmückt werden.“
„Und dann?“ fragte der Tannenbaum und bebte an allen Zweigen.
„Und dann? Was geschieht dann?“
„Ja, mehr haben wir nicht gesehen. Das war unvergleichlich.“
„Ob ich auch wohl bestimmt bin, diesen strahlenden Weg zu be—
treten?“ jubelte der Tannenbaum. „Das ist noch besser, als über das
Meer zu ziehen. Wie leide ich an Sehnsucht! Wäre es doch Weih—
nachten! Nun bin ich groß und ausgewachsen wie die andern, die im
vorigen Jahre weggeführt wurden. O, wäre ich erst auf dem Wagen!
Wäre ich doch erst in der warmen Stube mit all' der Pracht und
Herrlichkeit! Und dann? Ja, dann kommt noch etwas Besseres, noch
weit Schöneres; weshalb würden sie uns sonst so schmücken! Es muß
noch etwas Größeres, noch etwas Herrlicheres kommen. Aber was?
O, ich leide, ich sehne mich; ich weiß selbst nicht, wie mir ist!“
„Freue dich unser!“ sagten die Luft und das Sonnenlicht, „freue
dich deiner frischen Jugend im Freien!“
Ostfriesisches Lesebuch. Mittelstufe.
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