132 Dritte Periode, von 1100 bis 1300, oder erste Blüteperiode.
zeihung zu gewähren. Ein Bild der treuen Freundschaft bietet Hild¬
burg: in liebenswürdiger Teilnahme scheut sie die entehrendsten Dienst¬
leistungen nicht, um nur der Freundin tröstend zur Seite stehen zu können.
Rein weiblich und zart angelegt erscheint Ortrun: durch herzliche Freund¬
schaft sucht sie das harte Los zu mildern, welches ihre grausame Mutter
der armen Verlassenen auferlegt. Diese, „die Teufelin Ger lind", wie
der Dichter sie oft nennt, ist hart und unbarmherzig, sie fordert von der
hohen Königstochter Dienste, wie sie solche der niedrigsten Magd nicht ab¬
verlangen würde; aber dennoch straft sie nicht einer Teufelin gleich aus
grausamer Lust, sondern nur aus Liebe zu ihrem Sohne, für welchen sie
in Gudrun die vortrefflichste Gattin sieht.
Unter den Männern erscheint Hagen hart, ungeschlacht und ein¬
gebildet auf seine rohe Kraft, doch nicht ohne gewisse Gutmütigkeit und
Milde, die er namentlich beim Abschiede von seiner Tochter offenbart. Im
Gegensatze zu ihm steht Hettel; wenn auch ausgestattet mit allen Eigen¬
schaften der königlichen Macht und Würde, folgt er dennoch einsichtsvoll
dem Rate seiner Vasallen und ist gegen die Tochter ein nachsichtiger Vater.
Sein jugendlicher Sohn Ortwein ist das getreue Abbild des Vaters,
hoch entflammt in Liebe zu den Seinigen, für deren Ehre er mit wahrem
Mannesmute eintritt. Mit ihm kämpft tapfer um die geraubte Braut
Herwig, eine ritterliche Erscheinung voll Mut und beharrlicher Tatkraft,
aber auch voll Milde und zarter Rücksicht. In weniger vorteilhaftem
Lichte ist Hartmut gezeichnet. Weicheren Sinnes, läßt er sich ganz von
seiner Mutter leiten, wenn er auch sieht, wie grausam dieselbe gegen die
von ihm geliebte Gudrun verfährt. In der Schlacht ist er jedoch ein
tapferer Krieger, der die tüchtigsten Helden überwindet. Gegen Gudrun
bleibt er, so oft er anch von ihr zurückgewiesen wird, stets gleich zart und
rücksichtsvoll. Kräftigeren Charakter zeigt sein Vater Ludwig, der nicht
bloß Tapferkeit, sondern auch Klugheit und List kennt, aber dennoch nicht
Kraft genug besitzt, um feiner ehrsüchtigen und alles beherrschenden Gattin
Gerlind entgegenzutreten. Die Vasallen Hettels: Wate, Frute und Horand,
sind jeder für sich mit besondern Zügen ausgestattet. Wate ist der ge¬
waltigste und tapferste Degen, deffen Furchtbarkeit gleich der Hägens im
Nibelungenliede schon äußerlich sich zeigt. Frute wirkt als Kaufmann
verkleidet durch seine List, während Horand durch seinen lieblichen Gesang
einem Orpheus gleich herrliche Wundertaten vollführt.
So erscheint uns das Gudrunlied bei knapper Kürze als ein von
schöner Idee getragenes, farbenreiches, durch feine und kräftige Charakte¬
ristik ausgezeichnetes, mit vielen trefflichen Einzelschilderungen ausgestattetes,
den Stoff völlig erschöpfendes Werk. Mögen auch einzelne diese „wunder¬