fullscreen: Deutsches Lesebuch für Prima

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I. 10. Lotz e: 
nicht wirklich wäre, sondern weil sie nicht sein soll. Gegen das Nichtsein¬ 
sollende giebt es keine andere Pflicht als das Bestreben, es wieder aufzuheben; 
in der allgemeinen Nichtigkeit der Welt, deren Urteil das Ursein selbst durch 
beständige Wiedervernichtung alles Geschaffenen spricht, hat das menschliche 
Leben keinen Wert und keine eigenen Zwecke; das Heil liegt nur darin, sich 
von ihm abzuwenden, durch Ertötung aller Leidenschaften, zuletzt aller Vor¬ 
stellungen und alles Denkens, sich dem Einfluß der nichtseinsollenden Schein¬ 
welt zu entziehen und in den leidlosen Zustand des bewußtlosen Urseins zurück¬ 
zukehren. Diese Verzweiflung am Leben kann nicht als Folge jenes spekulativen 
Irrtums der Welterklärung gelten; sie mußte auf psychologischen Motiven 
der allgemeinen Stimmungen und des Lebensgefühls beruhen, die wir nicht 
mehr zergliedern können, denn sie durchdrang alle indische Gedankenwelt und 
selbst das praktische Leben mit einer Gewalt, die keinem durch den Volksgeist 
ununterstützten Lehrsatz eigen ist. Auch der Buddhismus, nachdem er die 
Geister von den Fesseln des Brahmanentums, dem Ceremoniendienst den Kasten¬ 
unterschieden den Schrecken der Seelenwanderung, die eine immer erneute 
Pein des Daseins verhießen, zu erlösen gesucht, endete mit demselben Ge¬ 
danken und strebte nur den Rückgang zum Nichts zu erleichtern. Die Gewalt 
aber, welche dieser Glaube über die Gemüter übte, bezeugt die Lust am 
asketischen Leben, die Unzählige zum Stande der Büßer und zu unerhörter 
Selbstgual begeisterte. Die großen geistigen Anlagen des Volkes verzehrten 
sich fruchtlos unter der Herrschaft dieser Ansichten. Das Wissen entwickelte 
sich wenig; die Sittlichkeit, bei großem Zartgefühl des Gemüts, erkannte doch 
nicht die unbedingte Heiligkeit des Guten; sie wußte auch nicht eigentlich vom 
Bösen, sondern nur vom Übel, das die Ursache der Gemütsunruhe ist; alle 
Tugend war demgemäß Ausbildung der Fertigkeit, diesem Übel zu entgehen. 
Endlich wie alle Überspannungen im Lauf der Zeit, da sie doch sich auf ihrer 
Höhe nicht halten können, einen Bodensatz von gewohnheitsmäßigem Mechanis¬ 
mus der Schwärmerei niederschlagen, so hat Brahmanismus und Buddhis¬ 
mus, der letztere schließlich noch umfangreicher, in dem Klosterleben und be¬ 
deutungslosem Ceremonienpomp sich zuin zwecklosesten Dasein verweltlicht. 
7 Ein kräftigeres Naturell ließ die iranischen Stammverwandten der Indier 
aus dem gemeinsamen Religionskeime bessere Früchte zeitigen. Zoroasters 
Lehre fügte zu dem verehrten Lichte einen kräftigen Schatten: statt der Täu¬ 
schung, die das Ursein verwirrt und zur Weltschöpfung verleitet, hat hier 
das Dunkel des bösen Princips die berechtigte wahre Entwickelung des lichten 
Guten nur oberflächlich beschränkt; am Ende des Streites zwischen beiden, der 
die Welt füllt, wird das Böse dem Lichtreich unterliegen und dann das allein 
sein, was allein sein soll. An diesem Streite hat der Mensch teilzunehmen.
	        
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