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nicht wirklich wäre, sondern weil sie nicht sein soll. Gegen das Nichtsein¬
sollende giebt es keine andere Pflicht als das Bestreben, es wieder aufzuheben;
in der allgemeinen Nichtigkeit der Welt, deren Urteil das Ursein selbst durch
beständige Wiedervernichtung alles Geschaffenen spricht, hat das menschliche
Leben keinen Wert und keine eigenen Zwecke; das Heil liegt nur darin, sich
von ihm abzuwenden, durch Ertötung aller Leidenschaften, zuletzt aller Vor¬
stellungen und alles Denkens, sich dem Einfluß der nichtseinsollenden Schein¬
welt zu entziehen und in den leidlosen Zustand des bewußtlosen Urseins zurück¬
zukehren. Diese Verzweiflung am Leben kann nicht als Folge jenes spekulativen
Irrtums der Welterklärung gelten; sie mußte auf psychologischen Motiven
der allgemeinen Stimmungen und des Lebensgefühls beruhen, die wir nicht
mehr zergliedern können, denn sie durchdrang alle indische Gedankenwelt und
selbst das praktische Leben mit einer Gewalt, die keinem durch den Volksgeist
ununterstützten Lehrsatz eigen ist. Auch der Buddhismus, nachdem er die
Geister von den Fesseln des Brahmanentums, dem Ceremoniendienst den Kasten¬
unterschieden den Schrecken der Seelenwanderung, die eine immer erneute
Pein des Daseins verhießen, zu erlösen gesucht, endete mit demselben Ge¬
danken und strebte nur den Rückgang zum Nichts zu erleichtern. Die Gewalt
aber, welche dieser Glaube über die Gemüter übte, bezeugt die Lust am
asketischen Leben, die Unzählige zum Stande der Büßer und zu unerhörter
Selbstgual begeisterte. Die großen geistigen Anlagen des Volkes verzehrten
sich fruchtlos unter der Herrschaft dieser Ansichten. Das Wissen entwickelte
sich wenig; die Sittlichkeit, bei großem Zartgefühl des Gemüts, erkannte doch
nicht die unbedingte Heiligkeit des Guten; sie wußte auch nicht eigentlich vom
Bösen, sondern nur vom Übel, das die Ursache der Gemütsunruhe ist; alle
Tugend war demgemäß Ausbildung der Fertigkeit, diesem Übel zu entgehen.
Endlich wie alle Überspannungen im Lauf der Zeit, da sie doch sich auf ihrer
Höhe nicht halten können, einen Bodensatz von gewohnheitsmäßigem Mechanis¬
mus der Schwärmerei niederschlagen, so hat Brahmanismus und Buddhis¬
mus, der letztere schließlich noch umfangreicher, in dem Klosterleben und be¬
deutungslosem Ceremonienpomp sich zuin zwecklosesten Dasein verweltlicht.
7 Ein kräftigeres Naturell ließ die iranischen Stammverwandten der Indier
aus dem gemeinsamen Religionskeime bessere Früchte zeitigen. Zoroasters
Lehre fügte zu dem verehrten Lichte einen kräftigen Schatten: statt der Täu¬
schung, die das Ursein verwirrt und zur Weltschöpfung verleitet, hat hier
das Dunkel des bösen Princips die berechtigte wahre Entwickelung des lichten
Guten nur oberflächlich beschränkt; am Ende des Streites zwischen beiden, der
die Welt füllt, wird das Böse dem Lichtreich unterliegen und dann das allein
sein, was allein sein soll. An diesem Streite hat der Mensch teilzunehmen.