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hat der Künstler die mannigfachste Naturbeobachtung zuhilfe ge¬
nommen, selbst in die gleichmäßige, gebundene Bewegung des
Dahinschreitens ist köstliche Schattierung gebracht. Ebenso be¬
wunderungswürdig sind die Reiterscharen, die mit ihrem feurigen
Leben, ihrer leichten Haltung auf den mutigen Rossen immer
neue Motive der Bewegung zeigen. So groß ist die Erfindungs-
gäbe des Meisters, daß unter den Hunderten von Gestalten
nicht zwei einander gleiche getroffen werden. Die meisten Fi¬
guren mag Phidias selbst vorgezeichnet haben, wie man aus
ihrer Vollkommenheit, Zartheit der Umrisse und Feinheit der
Flächenberechnung bei einem Relief, welches kaum drei Zoll aus
dem Grunde hervortritt, erkennen kann.
„Da sieht man die Jungfrauen dahinschreiten in langen Ge¬
wändern, Opfergefäße, Krüge und Schüsseln tragend; sie gehen
paarweise, meist gesenkten Hauptes, wie es sich am heiligen
Feste geziemt, ruhigen Fußes, doch fest auftretend, ohne zierliche
Leichtigkeit, die Arme einfach herabhängend, wenige sprechend
oder umgewendet. Priester übergeben die Teppiche und Gewände
den Jünglingen und Mädchen mit dem Ausdruck der Belehrung,
wie Heiliges geziemend zu tragen sei. Götter sitzen zuletzt, den
Zug erwartend. Auf der anderen Tempelseite sieht man den
Zug der Reiter, die paarweise einhersprengen, kräftige Jünglinge
im kurzen, wehenden Kleide, leicht und ritterlich in der Haltung,
mutig und munter im Ausdrucke, viele sich umwendend, einander
zurufend. Weiterhin sieht man solche, die noch nicht aufgestiegen
sind, sich dazu erst vorbereiten. Zuletzt folgt auch der Zug der
zum Wagenkampfe Gerüsteten, endlich Greise, die, auf ihren
Stock gestützt, der Jugend nachschauen."
Körner, Die Kämpfe im Altertum.
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