Full text: König Friedrich Wilhelm II. - König Friedrich Wilhelm IV. (Bd. 2)

sich berufen, die gottlos und unsittlich gewordene Menge, wie namentlich die 
Geistlichkeit, die sich vielfach ohne sittlichen und wissenschaftlichen Ernst in der 
nackten Verleugnung ihrer Kirchenlehre gefiel, durch ein Religions- und Censur¬ 
edikt zur wahren Religion zurückzuführen. Man darf selbst an der Ehrlichkeit 
der Absicht zweifeln, und sicher entsprachen die Thaten den Worten nur wenig. 
Tenn nicht um eine Änderung der Herzen, sondern um die Beobachtung änßerer 
Formen, um das Bekenntnis mit dem Munde handelte es sich. Tie Aufklärung, 
deren ment sich rühmte, bestand nach Lefsings Ausdruck nur in der Freiheit, 
gegen die Religion so viel Sottisen auf den Markt zu bringen, wie man wollte. 
Aber durch Edikte, durch Examinatiouskommissionen und Katechismus-Ausgabeu 
war sie so wenig wie durch polizeiliches Nachspüren zu beseitigen. Unklar, wie 
sie gefaßt waren, öffneten die Edikte vielmehr der Heuchelei die Thore und 
ließen sich nur zu leicht gegen jeden, der sich unliebsam machte, gebrauchen. 
Die Thatsache, daß der König die zur Gräfin Lichtenan erhobene Wilhelmine 
Enke als seine Geliebte behandelte, daß er späterhin mit der Gräfin Jugenheim 
und nach berat Tode mit der Gräfin Dönhoff zu Lebzeiten seiner Gemahlin, 
der Königin Friederike, Ehen abschloß, wirkte aus den Hof wie die bürger¬ 
liche Gesellschaft als ansteckendes Beispiel und erwünschte Entschuldigung ver¬ 
derblich ein. Überdies aber hatte das Werk Friedrichs, so gewaltig es auch 
war, doch auch seine Schwächen, die gerade in der Größe Friedrichs beruhten, 
und die sich nun schnell fühlbar machten. Von vornherein eine Natur von 
unübertroffener Selbständigkeit und Arbeitskraft hatte Friedrich, wie wir sahen, 
selbst alles und jedes allein geleitet, ja, je älter er wurde, je mehr gewöhnte 
er sich, nur sich selbst zu vertrauen. Tie Gabe, welche der Vater bei aller 
Selbständigkeit und Eigenmächtigkeit gehabt hatte, Schüler zu erziehen, die sein 
Werk fortsetzen konnten, war Friedrich versagt worden. Tie harte Schule, tu 
welcher Friedrich Wilhelm I. den Geist seines Kronprinzen zur Arbeit und 
Pflichterfüllung erzogen hatte, ist dem jititgeit Prinzen von Preußen nicht ge¬ 
worden, wiewohl auch Friedrich es au hartem Tadel nicht hatte fehlen lassen- 
Tie Beamten aber waren nicht mehr wie znr Zeit von Friedrichs Thron¬ 
besteigung an Selbstthätigkeit gewöhnt, nicht mehr gezwungen, selbst zu denken, 
selbst zu erfinden, sondern vielfach wenigstens hatten sie sich gewöhnt, als ge¬ 
fügige Werkzeuge zu dienen. An die Stelle des Bewußtseins, einem Friedrich 
zu dienen, trat mehr und mehr nun eine geschäftsmäßige Routine, die es ver¬ 
gaß, daß die Form der Geschäfte nach den Bedürfnissen und Jdeeen der Zeit, 
nicht aber diese nach jenen zu bilden feien. Man gewöhnte sich, in den her¬ 
gebrachten Formen den Grund der Größe des Staates zu sehen und bedachte 
nicht, daß jene für die Bedürfnisse ihrer Zeit getroffen seien, und daß das Sebeit 
stets neue Forderungen stellt, die ungestraft nicht vernachlässigt werden dürfen- 
Dennoch geschah mancherlei, was wohlthätig wirken konnte, wenn es nur 
mit Kraft durchgeführt wurde. Die Freiheit des Handels und des Verkehrs 
wurde durch Verminderung der Durchgangszölle und namentlich durch die Ab-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.