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12 Erstes Buch.
zu verlassen, bis sein Neffe mündig geworden. Er reiste nach Kreta,
wo er am längsten verweilte und die Gesetze nnd Einrichtungen
der eingewanderten Dorier kennen lernte. Die Dorier von Kreta
hatten mehr als andere an der alten dorischen Zucht und Sitte
festgehalten und die alten Satzungen und Einrichtungen des dori¬
schen Stammes am reinsten bewahrt und weiter gebildet; sie
glaubten später, diese ihre geortete Staatsverfassung stamme
von dem alten mythischen Könige' Minos her, der als weiser
Gesetzgeber berühmt war, aber lange vor der dorischen Einwan¬
derung in Kreta geherrscht hatte, und darum heißt es gewöhnlich,
Lyknrgos habe auf Kreta die Gesetze des weisen Minos ftubirt
und mit nach Sparta genommen. Von Kreta aus reiste Lykurg
weiter in die Städte der kleinasiatischen Griechen und gar bis
nach Aegypten, dem Sitze uralter Weisheit. In dem kleinasiati¬
schen Jonien lernte er die Gedichte des Homer kennen, und er
soll der erste gewesen sein, der dieselben nach dem europäischen
Griechenland herübergebracht habe.
Als Lykurgos endlich wieder nach Sparta zurückkehrte, saud
er den Staat in noch größerer Zerrüttung als zuvor und seinen
Neffen Charilaos im Besitze einer tyrannischen Gewalt; deshalb
beschloß er den kranken Staatskörper zu heilen und ihm eine
Einrichtung zu geben, wie er sie in-Kreta kennen gelernt hatte.
Vorher aber begab er sich nach Delphi, um das Orakel des
Apollon zu befragen, ohne dessen Rath in Sparta nichts Wich¬
tiges geschah. Bei seinem Eintritt in das Heiligthum empfing
ihn die Pythia mit den Worten:
„O Lykurgos, du kommst zu meinem gesegneten Tempel,
Werth und theuer dem Zeus und sämmtlichen Himmelsbewohnern.
Soll ich als Gott dich begrüßen, so frag' ich mich, oder als Menschen?
Ja, ich meine, du bist wohl eher ein Gott, o Lykurgos!"
Durch diese Worte ermuthigt, kehrte Lykurg in die Vater¬
stadt zurück, fest entschlossen, das schwere Werk zu vollführeu.
Nachdem er einen Theil der Bürgerschaft für feinen Plan ge¬
wonnen, trat er eines Morgens mit 30 bewaffneten Anhängern