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christliche Kirche eine höhere Anschauung, als die katholische ihm sein konnte.
Wie Luther, so erkannte auch Melanchthon seitdem nur in der Bibel die Grund¬
lage der christlichen Lehre.
Wie berechtigt dieser Standpunkt sei, konnte damals die große Menge noch
nicht ermessen. Nur bevorzugte Geister näherten sich dieser Erkenntniß. Aber
wenn auch die Masse des Volkes, selbst die Hochstehenden und Gebildeten in
großer Mehrzahl, dem Angelernten treu blieben, so war doch gesunder Sinn ge¬
nug verbreitet, um Vielen zu zeigen, daß die schreiendsten Mißbrauche, auf
welche Luther und Melanchthon hingewiesen hatten, wirkliche Mißbrauche seien;
imd jemehr die herrschende Kirche aus leicht durchschaubaren Gründen jeder
Reform entgegentrat, desto geneigter wurden Viele, auch denjenigen Sätzen jener
beiden Männer, deren Richtigkeit nur die wissenschaftlich Hochgebildeten prüfen
konnten, mehr oder weniger offen zuzustimmen. Nicht ohne Besorgniß, aber be¬
fangen in den althergebrachten Voraussetzungen und Ansichten sah die päpstliche
Curie sich einen Gegner erwachsen, dem sie an Geist und Wissenschaft nicht ge¬
wachsen war. Wenn sie sich das Letztere auch nicht eingestanden haben mag, so
hielt sie es nach den ersten vergeblichen Versuchen, Luther zum Widerruf zu be¬
wegen, doch für geeigneter, durch Gewalt dem Angriffe ein Ziel zu fetzen. Indem
von Seiten der Curie behauptet wurde, der Papst sei das Haupt der Welt, ja im
Grunde selbst die Welt, und alle weltliche Gewalt sei dem Papste untergeordnet,
ja selbst dem Kaiser stehe der Päpst so weit voran, wie dem Blei das Gold, wird
es begreiflich, daß man mit Hochmuth anfangs, dann mit Erbitterung dem Ur¬
heber einer geistigen Bewegung entgegentrat, die jenen hochgeschraubten Stand¬
punkt wesentlich gefährdete. Nachdem auch Eck im Februar 1520 eine gelehrte
Beweisführung für jene römische Lehre von der Oberherrschaft des Papstes ver¬
öffentlicht hatte, nachdem in ähnlichem Sinne von den Universitäten zu Cöln und
Löwen Erklärungen abgegeben worden waren, ohne doch die für Roms Ansprüche
ungünstige Sachlage zu ändern, entschloß man sich in Rom zu entscheidenden
Schritten. Eine strengkatholische Commission, an der allem Anschein nach auch
Eck betheiligt war, wurde beauftragt, über Luther und seine Lehren ihr Urtheil
auszusprechen, sowie überhaupt die strenge Kirchenlehre zur Geltung zu bringen.
Jetzt erklärte sich der Papst in dem seit lange schon andauernden Streite
der Dominicaner gegen die wissenschaftlicheren und neuen Ansichten zugäng¬
licheren Augustiner zu Gunsten der Erstem; am folgenreichsten aber wurde es,
daß am 16. Juni 1520 die Verdammungsbulle über 41 Sätze aus Luther's
Schriften, die als ketzerisch bezeichnet wurden, ausgefertigt wurde. Nur 60 Tage
wurden Luther zugestanden, um seinen Widerruf zu bewerkstelligen und steh dem
Papste zu unterwerfen. Alle Schriften Luther's, auch die, welche die bezeich¬
neten Irrthümer nicht enthielten, selbst die, welche er etwa noch zu schreiben be¬
absichtigen würde, sollten nicht verkauft oder gelesen werden, weil sie von einem
„Feinde des christlichen Glaubens" herrührten; Jedermann sollte sie in's Feuer
werfen, um Luther's Gedächtniß gänzlich aus der Gesellschaft der Gläubigen
auszurotten. Geistlichen und Laien wurde mit den schärfsten Worten geboten,
Luther und seine Anhänger einzufangen und dem Papste zur Bestrafung zu über¬
liefern; die Belohnung für das „gute Werk" werde nicht ausbleiben. Jeder
Ort, an welchem Luther und feine Anhänger geduldet wurden, sollte mit dem
Interdikt belegt werden. Allenthalben in den Kirchen war die Bannbulle oder
eine beglaubigte Abschrift derselben anzuschlagen.