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Du hältst das Körnlein an dein Ohr; es giebt keinen Laut
von sieh. Du legst es auf dgn Tisch; es rührt sich nicht. Es
ist nicht warm, nicht kalt, und doch steckt viel Leben darin.
Der liebe Gott hat sogar in dieses eine kleine Körnchen einen
grossen Halm mit einer langen Ähre von vielen Körnern ver¬
steckt, wenn es der Mensch mit seinen Augen auch nicht sehen
kann. Kannst du doch auch in dem Vogelei keine Federn,
keine Flügel und keinen Schnabel sehen, und doch steckt ein
ganzer Vogel darin. Das Korn ist auch ein solches Ei, das
von der Erde wie von einer Bruthenne ausgebrütet wird. Der
in ihm liegende Keim ist wohl verwahrt. Wie bei dem Ei
kommt erst eine gröbere, härtere Schale, die den weichen Kern
wie ein Panzer umgiebt. Zwischen ihr und dem Keime liegt
noch eine feinere, weichere Haut, damit die äussere Haut nicht
zu sehr drücke.
Hat das Samenkorn eine Zeitlang in der dunklen Erde
geschlummert, so wecken es die Sonnenstrahlen aus seinem
Schlafe; der Keim in seinem Innern regt sich. Er saugt die
weifse Milch auf, die ihn umgiebt. Dadurch wird er bald so
stark? dass er die äussere Schale zersprengt und zwei Spitzen
hervortreibt, die man das Federchen und das Würzelchen
nennt. Das Würzelchen geht nach unten in die Erde; denn
es weiss, dass es Speise und Trank findet. Dabei teilt es sich
in kleine Fasern, die man Wurzelfasern nennt. Mit diesen
saugt es die Nahrung auf. Woher weiss aber der Keim, dass
er Nahrung im Boden findet? Wer hat ihm gesagt, wo der
Erdboden ist, den er doch nicht sieht? Das hat ihm der
liebe Gott gesagt, der das Körnlein erschaffen hat, und der es
erhalten will. Darum, wenn du die Spitze des Keimes, der
zur Wurzel bestimmt ist, aufwärts kehrest, so krümmt sie sich
so lange abwärts, bis sie den Erdboden gefunden hat. Die
andere Spitze, das Federchen, welches zu Stengeln und Blättern
emporwachsen soll, wendet sich jedesmal von der Erde weg
und steigt nach oben, um Licht und Luft zu suchen.