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Spuren in dasselbe geschrieben. Mit einem unterdrückten
Weherufe warf sich der treue Sohu in die Arme des
Vaters; beide konnten ihre Thränen nicht zurückhalten.
Endlich sagte der Alte: „Du sagst, mein Sohn, ich sei
frei ? Weshalb dann das Geheimnisvolle Deines Thuns?
Wenn der Rat meine Unschuld erkannt hat, warum
kommt er dann nicht selbst, mir meine Freiheit an¬
zukündigen ? Mein Sohn, mein Heinrich, Dn täuschest
mich! Ich bin nicht frei, meine Gefangenschaft ist nicht
zu Ende!" „Wer sagt es denn, daß der Rat Dir die
Freiheit geben wolle?" erwiderte Heinrich; „nicht der
Rat, sondern ich, Dein Sohn, will Dich befreien. Dein
Kerker steht offen, Fnipil hält den alten Kerkermeister
zurück, daß er Deine Flucht nicht bemerkt. Auf der
Weser wartet ein Schiff der Tonnenmacherzunft, Dich
aufzunehmen und fortzuführen. Darum komm, eile, dieses
Loch zu verlassen, ehe unsere Flucht entdeckt wird".
Mit einem langen, vorwurfsvollen Blicke sah Vasmer
auf seinen Sohn. „Ich soll fliehen, Heinrich?" sagte er.
„Ist das Gehorsam leisten den Gesetzen, wenn man sich
dem Arm der Obrigkeit entzieht? Nein, ich will, ich
kann nicht fliehen, ich muß hier bleiben! Mein ganzes
langes Leben hindurch habe ich es gezeigt, wie der Bürger
Unterthan sein soll den Gesetzen, und nun in meinem
Alter sollte ich mein ganzes vergangenes Leben Lügen
strafen? Nein, nein, ich bleibe hier und erwarte mit
Ruhe, was der Rat über mich beschließt; dem Gesetze
untreu werden will ich nicht, kann ich nicht!"
„Vater!" rief Heinrich in furchtbarer Angst; „be¬
denke es, Dein Leben steht auf dem Spiel. Denke an
Dich selbst, an die Mutter, an uns, Deine Kinder! Was
soll aus uns werden, wenn wir Dich verlieren? Der
Rat ist unerbittlich; selbst Johann von Minden ist unter
Deinen Widersachern und der grimmigste Deiner Feinde.
Sie haben beschlossen. Dich zu verderben, sie wollen Dich
vor das Blutgericht stellen, und Du weißt, daß alsdann
keine Gnade zu hoffen ist. Darum fliehe mit mir, er¬
halte Dein Leben, wende dieser undankbaren Stadt den