121
vortragen und fand ihn bedenklich; denn obschon die Gesetze der Witwe
ausdrücklich recht gaben, so war es doch nicht leicht, einen Fürsten, der
gewohnt war, seinen Willen für die vollkommene Gerechtigkeit zu halten,
zur freiwilligen Erfüllung eines veralteten Gesetzes zu bewegen. Was
that also der gerechte Kadi? Er sattelte seinen Esel, hing ihm einen
großen Sack über den Hals und ritt unverzüglich nach den Gärten des
Palastes, wo der Kalif sich eben in dem schönen Gebäude befand, das er
auf dem Erbteile der Witwe erbaut hatte. Die Ankunft des Kadi mit
seinem Esel und Sacke setzten ihn in Verwunderung, und noch mehr er—
staunte er, als Ibn Beschir sich ihm zu Füßen warf und also sagte:
„Erlaube mir, Herr, daß ich diesen Sack mit Erde von diesem Boden
fülle.“ Hakkam gab es zu. Als der Sack voll war, bat Ibn Beschir
den Kalifen, ihm den Sack auf den Esel heben zu helfen. Hakkam fand
dieses Verlangen noch sonderbarer als das vorige; um aber zu sehen,
was der Mann vorhabe, griff er mit an. Allein der Sack war nicht zu
bewegen, und der Kalif sprach: „Die Bürde ist zu schwer, Kadi, sie ist
zu gewichtig.“ „Herr,“ antwortete Ibn Beschir mit edler Dreistigkeit,
„du findest diese Bürde zu schwer, und sie enthält doch nur einen kleinen
Teil der Erde, die du ungerechterweise einer armen Witwe genommen
hast! Wie willst du denn das ganze geraubte Land tragen können, wenn
es der Richter der Welt am großen Gerichtstage auf deine Schultern
legen wird?“ Der Kalif war betroffen; er lobte die Herzhaftigkeit und
Klugheit des Kadi und gab der Witwe das Erbe zurück mit allen Ge—
bäuden, die er darauf hatte anlegen lassen.
XXII. Johann Wolfgang von Goclhe.
(1749 1832)
134. Erlkönig.
1. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
er hat den Knaben wohl in dem Arm,
er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
2. „Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?“ —
„Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron' und Schweif?“ —
„Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“
3. „Du liebes Kind, komm, geh' mit mir!
Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir!
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
meine Mutter hat manch gülden Gewand.“