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Einheit und Nationalgefühl immer mehr. Nur einzelne Fürsten ragten durch aus¬
gezeichnete Eigenschaften hervor. Zu diesen gehörte insonderheit der Kurfürst
Friedrich Wilhelm von Brandenburg, dessen Nachfolger sich die Königskrone
aufsetzte (1701).jy
§. 105. Kultur Deutschlands seit der Reformation. Der von
Maximilian I. gegebene Landfriede trug zwar zur Ausrottung des Faustrechtes bei,
konnte dasselbe aber nicht ganz tilgen. Noch zu Luthers Zeiten trieben die Ritter,
bald als Räuber, bald als Beschützer der Unterdrückten ihr Wesen (Georg von
Frundsberg, Franz von Sickingen, Götz von Berlichingen). Später wurde das
deutsche Fußvolk unter dem Namen der Landsknechte berühmt. Die Vehmgerichte
hörten allmählich auf, und Manufakturen singen an zu blühen. Auch wurde das
Studium der Wissenschaften durch gelehrte Männer (Reuchlin, Keppler, Seb. Frank)
und durch Gründung neuer Universitäten gefördert. Albrecht Dürer und Holbein
brachten die Malerei zu hohem Flor. Merkwürdig ist der Aufwand, den Fürsten
und reiche Bürger bei festlichen Gelegenheiten im Essen und Trinken trieben (Fugger
und Welser). Nach dem dreißigjährigen Kriege sank der Handel, die Hansa löste
sich völlig auf, und Deutschland trat im Verkehr und in den Gewerben hinter die
Niederlande und England zurück. Aus den freien Reichsstädten wurden fürstliche
Residenzen, und die schöne Kultur der Reformationszeit ging unter. Schlimmer
als dieses äußere Unheil, war, dass durch den Krieg die alte Zucht unterging und
dass namentlich Frankreich auf deutsche Sprache, Kunst, Wissenschaft und Sitte
einen nachtheiligen Einfluss ausübte. Das religiöse und kirchliche Leben verlor
ganz und gar seine innere Glaubenswärme und machte einer rechthaberischen
Streitsucht platz, welcke der protestantischen, jetzt frei gewordenen Kirche in hohem
Grade schadete.
tz. 106. Die Türken vor Wien. Ferdinands III. zweiter Sohn
Leopold I. (1658—1705), wurde nach einem Interregnum von 15 Monaten
zum Kaiser erwählt. Unter seiner Regierung versank das deutsche Reich immer
tiefer und litt an inneren Unruhen und unter fortdauernden Kriegen. Zu den
letzteren gehörten die Kriege mit den Türken. Es waren nämlich schon seit längerer
Zeit die Ungarn von der kaiserlichen Regierung vielfach gedrückt worden, und infolge
dessen hatten sie versucht, sich von Österreich loszumachen und wieder ein unab¬
hängiges Volk zu werden. Sie empörten sich unter dem Grafen Tökely, der bei
dem türkischen Sultan Muhammed IY. Schutz fand, von ihm zum Könige von
Ungarn erklärt und mit einem gewaltigen türkischen Heere unter Anführung des
Großvesirs Kara Mustapha unterstützt wurde. Die Türken drangen bis Wien
vor, der kaiserliche Hof flüchtete nach Linz, und die Hauptstadt schien verloren.
Der tapfere und entschlossene Rüdiger von Stahremberg vertheidigte Wien
60 Tage lang; da eilte der polnische Heldenkönig Johann Sobiesky herbei
und lieferte den Türken unter den Mauern Wiens eine blutige Schlacht, sodass
viel Beute in die Hände der Sieger kam und der Herzog Karl von Lothringen,
der das Reichsheer befehligte, den Türken eine Stadt nach der anderen entriss
(1683). Über die Ungarn wurde ein strenges Blutgericht gehalten, und das Land
gehört seitdem erblich zu Österreich. Die Türken verloren, was sie erobert hatten,