Full text: Lebensbilder und Sagen (Teil 1)

270 IV. Neuhochdeutsche Zeit. D. Tie Litteratur des neunzehnten Jahrh. 
war aus dem Kalkgestein aus sein Haupt niedergetrauft, da schaute er prüfend 
empor, ob der grauenhafte Überhang noch anhalte mit dem Einsturz, bis er 
vorüber sei. Aber Felswände vermögen länger im schiefen Zustand zu ver¬ 
harren als das, was Menschenhände bauen; es stürzte nichts herab als ein 
zweiter Tropfen. 
Mit der Linken am Gestein sich anlehnend, schritt der Mann vorwärts. 
Immer schmäler ward der Steig, der schwarze Abgrund zur Seite rückte 
näher, schwindelnde Tiefe gähnte herauf . . . jetzt schwand auch die letzte 
Spur eines Pfades. Zwei mächtige Fichtenstämme waren als Brücke über 
den Abgrund gelegt. 
„Es muß sein!" sprach der Mann und schritt unverzagt darüber. Er 
atmete hoch auf, wie er drüben wieder Boden unter den Füßen verspürte, 
und machte Halt, um sich den grausigen Platz zu betrachten. Es war ein 
schmaler Felsvorsprung, über und unter ihm senkrechte, gelbgraue Steinwand, 
in der Tiefe, kaum sichtbar, ein Silberstreif im Grün des Thales, der Waldbach 
Sitter, und scheu versteckt im Tannendunkel der mehrfarbige Spiegel des 
Seealpsee. Genüber gepanzert und gewappnet die Schar der Bergesriesen 
— die Feder will zu fröhlichem Sang aufjodeln, da sie ihren Namen schreiben 
soll: der lang gestreckte Kamor, die gewaltigen Mauern der Boghartenfirst 
und Sigels Alp und Maarwiese, auf deren Zinnen wie Moos auf den 
Dächern würziger Graswnchs grünt, dann der Hüter des Seegeheimnisscs, 
der „alte Mann" mit runzelgesurchter Steinstirn und weißnmschneitem Haupt, 
des hohen Säntis Kanzler und Busenfreund. 
„Ihr Berge des Herrn, benedeiet den Herrn!" sprach der Wandersmann, 
ergriffen von der Wucht des Eindrucks. Viel hundert Bergschwalben flatterten 
aus den Spalten des Gesteins. Ihr Flug soll gute Vorbedeutung sein. 
Er that etliche Schritte vorwärts. Da war die Felswand mächtig 
zerklüftet; eine doppelte Höhle that sich auf; aus rohem Schaft zusammen¬ 
gefügt, stand ein schmuckloses Kreuz dabei; Tannenstämme, an der einen 
Höhlenwand zum Blockhaus geschichtet und nach Art der damals üblichen 
Kriegsgerüste oder Belagernngstürme mit zusammenfügtem Flechtwerk über¬ 
dacht, deuteten auf menschliches Anwesen. Kein Laut unterbrach die Stille. 
Der Fremde kniete vor dem Kreuz und betete lang. 
Es war Ekkehard; der Ort, wo er betete, das Wildkirchlein. Un¬ 
versehrt war er aus seinem Bergrutsch, als ihn Praxedis befreit, in die Tiefe 
gefahren; der andere Morgen fand ihn erschöpft beim alten Moengal in der 
Radolfzelle. „Ach, daß ich in der Wüste ein Hüttlein der Wandersleute 
haben könnte, so wollte ich mein Volk verlassen und mich von ihnen ab¬ 
sondern; denn sie sind Lügner und treulos zusammen," sprach er mit den 
Worten des Propheten, nachdem er dem Lentpriester sein Leid geklagt. 
Da wies ihm der Alte den Säntis. 
„Hast recht," sprach Moengal. „Sonnennähe verjüngt. Thue des¬ 
gleichen! Ich weiß dir ein gut Plätzlein zum Gesunden. Du wirst einen
	        
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