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55. Der Wolf und das Lämmlein.
Ein Wolf und ein Lämmlein kamen von ungefähr beide an einen
Bach, um zu trinken; der Wolf trank oben am Bache, das Lämmlein
aber unten. Da der Wolf das Lämmlein erblickte, lief er zu ihm und
sprach: „Warum trübst du mir das Wasser, daß ich nicht trinken kann?“
Das Lämmlein antwortete: „Wie kann ich dir das Wasser trüben? wrinlst
du doch über mir!“ Der Wolf sprach: „Wie, fluchest du mir noch
dazu?“ Das Lämmlein antwortete: „Ich fluche dir ja nicht.“ Der
Wolf sprach: „Ja, dein Vater fügte mir vor sechs Monaten auch ein
Leid zu.“ Das Lämmlein antwortete: „Bin ich doch da noch nicht
geboren gewesen; wie kann ich entgelten, was mein Vater gethan haben
soll?“ Der Wolf sprach: „Du hast aber meine Wiesen und Felder
abgenagt und verderbt.“ Das Lämmlein antwortete: „Wie ist das
möglich? Ich habe ja noch keine Zähne.“ „Ei“, sprach der Wolf,
„du weißt ja eine ganze Menge Ausreden; doch dies alles macht dich
nicht straflos, du kannst nicht ungefressen bleiben!“ Also würgte er das
unschuldige Lämmlein, und fraß es.
Der Wolf findet leicht eine Ursache,
Wenn er das Schaf fressen will.
56. Das Böckchen und der Wolf.
Der Bruder eines Geischens war ein muthwilliges, ungehorsames
Böckchen. Dieses stand einmal auf dem Dache, als der Wolf vorbei
ging. Da dachte das Böckchen: „Hier kann der Wolf mich nicht er—
reichen, von hier will ich ihn einmal necken.“ Und es nahm kleine
Ziegelstückchen und warf den Wolf, und schimpfte ihn, und gab ihm
häßliche Namen. Der Wolf aber schwieg stille, und ließ es sich ge—
fallen; denn er dachte: „Warte nur! ein andermal krieg ich dich doch.“
Als aber die Mutter Geis dazu kam, schalt sie das Böckchen sehr und
sagte: „Du unartiges Kind, mußt du den Wolf necken? Er ist schon
böse genug, und wenn er dich sieht, wird er dich zu allererst fressen.“
Und so ging es auch. Einmal spielte das Böckchen vor der Thür, und
dachte an gar nichts. Da kam der Wolf in drei Sprüngen aus dem
Walde und sperrte seinen Rachen auf, daß man die langen Zähne darin
sah. Da schrie das Böckchen um Hülfe, und wollte schnell wieder auf
das Dach klettern; allein es war zu spät. Der Wolf sagte: „Du hast
mich einmal geschimpft, du sollst mich nicht wieder schimpfen“, schleppte
es in den Wald und fraß es.
Willst du haben Ruh, laß Andere in Ruh.
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