Full text: Vom Beginn des Dreißigjährigen Krieges bis zum Tode Wilhelms I. (Teil 2)

§ 103. Deutsches Geistesleben im 18. Jahrhundert. 
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(1773) und der Roman „die Leiden des jungen Werther" 
(1774). Es waren Produkte der „Sturm- und Drangperiode", 
d. i. jener etwa die Jahre 1770—1785 umfassenden Zeit, in welcher 
die jungen Dichter, von einer eigenartigen Gärung ergriffen und hin¬ 
gerissen, die Regeln und Gesetze der Überlieferung abstreiften, als 
„Kraftgenies" die engen Schranken der Sitte und Gesellschaft durch¬ 
brachen und das Recht der freien, uneingeschränkten Entfaltung der 
Persönlichkeit forderten. 
Ein wichtiger Abschnitt im Leben Goethes begann 1775. Der 
eben mündig gewordene Herzog Karl August von Sachsen- 
Weimar berief den Dichter, den er in Frankfurt keimen und schätzen 
gelernt hatte, nach Weimar. Er fand Aufnahme in den geistreichen 
Kreis, zu welchem die kunstsinnige Herzogin-Mutter Amalie, das 
Fürstenpaar, Wieland (Erzieher des Herzogs), seit 1776 Herder und 
seit 1799 Schiller gehörten. Goethe wurde Freund und vertrautester 
Ratgeber des Herzogs, vou diesem mit Ehren überhäuft und nach 
und nach mit den höchsten Staatsämtern bekleidet. Zwar nahmen 
Bernfsgeschäste, Hoffestlichkeiten und theatralische Aufführungen des 
Dichters Tätigkeit in Anspruch; er fand aber doch Zeit zu kleineren 
dichterischen Produktionen und zur Vorbereitung von Werken des 
tiefsten Gehaltes. 1786 trat er eine zweijährige Reise durch Italien 
an. Das Zauberland des Südens übte auf Geist, Gemüt und die 
Kunstanschauungen des Dichters einen so tiefgehenden Einfluß aus, 
daß er selbst seinen dortigen Aufenthalt die Zeit seiner geistigen 
Wiedergeburt nennt. Er gewann hier ein Verständnis der griechischen 
Kunst; infolgedessen wandte er sich ab von den formlosen Produkten 
der Sturm- und Drangperiode und erblickte das wahre Prinzip der 
Kunst „in der klassischen Idealität, welche den edelsten Gehalt in die 
vollendetste Form zu kleiden suchte". Es erschienen nun rasch nach 
einander einige seiner reifsten Werke: Iphigenie in Tauris, 
Egmont, Torquato Taf so. 
1794 erfolgte Goethes Annäherung an Schiller. Obwohl 
sich die beiden Dichter durch ihre Betrachtungsweise unterschieden 
(Goethe Realist, Schiller Idealist), so umschlang sie doch bald ein Band 
ausrichtiger Freundschaft, das nur durch den Tod gelöst werden konnte. 
Neues Leben grünte und blühte in Goethes Seele empor. Eine Frucht 
desselben war das epische Meisterwerk: „Hermann und Dorothea" 
(1797), worin in Anlehnung an einen welthistorischen Vorgang (Fran¬ 
zösische Revolution) ein anziehendes Bild des biederen deutschen 
Familienlebens gezeichnet wird. — Der Tod Schillers (1805) übte 
eine erschütternde Wirkung aus den Freund. Nur langsam erhob er 
sich vom Schmerz. In den folgenden 27 Jahren seines Lebens aber 
entsaftete er noch eine überaus reiche dichterische Tätigkeit. Es er- 
b. Zweite 
Dichterperiode 
1775-1794. 
c. Goethe im Ver¬ 
kehr mit Schiller 
1794—1805. 
ct. Goethes Alter 
1805—1832.
	        
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