110 IX. Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß.
Schuldenlast;
ungerechte Ver¬
teilung der
Steuern.
Sittenverderbnis
des Hofes und
des Adels.
das, was die Zurückgekehrten sagten, fiel auf einen empfänglichen
Boden. Es wurde von den Franzosen gierig ergriffen und erzeugte
das Verlangen, auch ihrerseits sich von dem Druck zu befreien, der
schwer auf ihnen lag. So wirkte der nordamerikanische Freiheits¬
kampf anspornend auf das leicht entzündbare französische Volk. Was
dasselbe jedoch so empfänglich machte für die aus der Neuen Welt
stammenden Ideen, das waren die im eigenen Staate herrschenden,
höchst unerquicklichen und der Gerechtigkeit Hohn sprechenden Zustände.
2. Die fortgesetzten Kriege des ländergierigen Ludwig XIV.
(1643—1715) und seines Nachfolgers Ludwig XV. (1715—1774)
hatten in Verbindung mit der maßlosen Verschwendung, welche beide
Monarchen geübt, den Wohlstand der Nation verzehrt und dem Staat
eine unermeßliche Schuldenlast aufgebürdet. Schwer drückte die¬
selbe auf die Untertanen. Die zur Bestreitung der Staatsbedürfnisse
und des vom Hofe beliebten Aufwandes nötigen Summen konnten nur
durch hohe Steuern herbeigeschafft werden. Die Verteilung derselben
aber auf das Volk war eine sehr ungleichmäßige und das Rechtsgefühl
verletzende. Während Adel und Geistlichkeit, die beiden privilegierten
Stände, sich fast völliger Steuerfreiheit erfreuten, hatten die Bürger
und Bauern (der dritte Stand) nahezu unerschwingliche Abgaben zu
entrichten und waren zudem noch durch Frondienste, Zölle und durch
den Zehnten außerordentlich belastet.
3. Der französische Hof war unter Ludwig XV. eine Stätte, wo
dem Laster in der schamlosesten Weise gehuldigt wurde. Schranken¬
lose Befriedigung der sinnlichen Lust galt als Lebensweisheit, Moral
als Torheit. Daher fchente man sich nicht, die dem Volke erpreßten
Summen sinnlos zu vergeuden. Und wie in der Umgebung des
Königs, fo lebte man in den aristokratischen Kreisen. Auch hier war
das Gefühl für religiöse und moralische Forderungen abgestumpft,
verband man mit äußerer Pracht innere Fäulnis, mit äußerer Würde
sittliche Gesunkenheil. Aber trotz der im Adelstand herrschenden
Entartung war derselbe im Besitz aller Ehrenstellen und Ämter, die
ihm Macht und Gelegenheit gaben, das niedere Volk, die Bürger
und Bauern, zu drücken und auszusaugen. Schutzlos waren letztere
jedem Mißbrauch der Amtsgewalt preisgegeben. In ihrer
Rechtlosigkeit mußten sie alle Verfügungen der despotischen Regierung
über sich ergehen lassen, so z. B. willkürliche Haftbefehle und Steuer¬
forderungen.
Alle die hier aufgezählten Mißstände: die große Schuldenlast des
Staates, die ungleiche Verteilung der Steuern, die Sittenverderbnis
des Hofes und des Adels, die Macht der Bevorrechteten, die rechtlose
Stellung des Volkes — bewirkten, daß sich in dem gedrückten und
darbenden dritten Stande die Unzufriedenheit regte, daß diese sich zur