§ 23. Die Kultur des Hellenismus. 115
unb Natnrkräfte sah, konnten dem Volke die Religion erhalten; die
erstere ebnete höchstens dem hellenistischen Herrs cherkultus den
Boden (s.S. 109). Die große Masse aber suchte Befriedigung für die
in der Menschenseele nie erlöschenden religiösen Bedürfnisse im Wun-
der- und Aberglauben, wie ihn namentlich die Mysterien und die
ausländischen Gottesdienste (Isis, Sarapis) mit sich brach¬
ten. Die sich im hellenistischen Kulturkreise vollziehende Entnationali¬
sierung der Völker führte zu einer Vermischung der verschiedensten
Religionen und Kulte (Synkretismus).
Für die Gebildeten trat an die Stelle der Religion die Philo so - Die Philosophie,
phie, die seit Plato und Aristoteles nicht aufhörte, in der Ethik einen
Ersatz für die verlorene Religion zu suchen, und die auch in der Tat
in jener Zeit bleibende religiöse Werte geschaffen hat. In einem, wenn
auch nur losen Zusammenhange mit einigen Schülern des Sokra¬
tes, den sog. „kleinen Sokratikern", stehen die beiden Schulen, die
im 3. Jahrhundert entstanden, ihm den Stempel aufprägten und noch
jahrhundertelang die edelsten Geister in ihren Bannkreis zogen: die
stoische und die epikureische.
Dir stoische Schule verdankt ihren Namen bem Umftanbe, baß ihr Be- Tie ©totfer
grünber Zenon (um 300) seine Schüler in ber Stoa, ber „bunten Halle",
in Athen (s. S. 79) um sich vereinigte. Ausgehenb von ber nachsokratischen
Schule ber Kyniker (Zyniker), bie bie Selbstgenügsamkeit unb Bebürsnis-
losigkeit ihres Meisters zum Lebensibeal erhoben unb bie innere Freiheit
bes Menschen burch völlige Mißachtung ber Kultur erreichen wollten (Dio¬
genes), begrünbeten bie Stoiker in wissenschaftlicher Weise ihre Lehre,
baß bie Tugenb bas einzige Gut unb bas Schlechte bas einzige
Übel sei — alles anbere, wieGesunbheit, Reichtum, Lust unb Tob erklärten
sie für „gleichgültig" (aöiccyoQu) —, baß nur bervollkommeneWeise
burch Freisein von jeglicher Leibenschaft (and&eia, Apathie) bas Tugenb -
ibeal erreichen könne, nämlich sich mit Bewußtsein unb burch ein mit ber
Natur übereinstimmenbes Leben ber göttlichen Weltorbnung zu un¬
terwerfen. Die Stoiker haben bas weltgeschichtliche Verbienst, zuerst eine
Pf lichtenlehre ausgestellt zu haben, bie ben Menschen zu einer alle
Menschen als Kinber Gottes umspannenben Humanität erziehen sollte
unb bie fast ben Charakter einer Religion annahm.
Die epikureische Schule ist von bem auf Samos geborenen Athener Tie Epikureer.
Epikur, einem Zeitgenossen Zenons, begrünbet worben unb lehnt sich
an bie Lehre bes Nachsokratikers Aristipp von Kyrene („Kyrenaifer")
an, ber bas Glück bes Lebens in einer von Leibenschaften unb Aber¬
glauben befreiten, also burch vernünftige Einsicht erworbenen mäßigen Luft
(jjSovri, Hebonismus) sah. Epikur suchte wie bie Stoiker bem Menschen ben
Weg zur Glückseligkeit zu zeigen unb erklärte für bie höchste Lust bie un¬
erschütterliche Ruhe ber Seele aber während jene einen
hohen Gottesbegriff gewannen, leugnete er, gestützt auf bie von ihm an¬
erkannte materialistische Atomistik (s.S.84), jebes Walten höherer
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